Masken der Begierde
Werk.“
Allegra starrte Violet mit einer Mischung aus Trotz und Verlegenheit an. „Eine meiner letzten Betreuerinnen hielt Burns’ Bücher für ein junges Mädchen wie mich unpassend“, erzählte sie.
Violet lächelte und reichte ihr das Buch. „Falls dich meine Einstellung interessiert, ich finde, eine Frau kann nie klug genug sein. Solange ich hier im Haus bin, sollst du lesen dürfen, was immer dich glücklich macht.“
Allegras Unsicherheit fiel von ihr ab, und sie strahlte.
„Oh Miss Delacroix, ich bin froh, dass Ihr ebenso denkt! Ich liebe Bücher. Lucas sagt, Bücher sind Wissen, und Wissen ist Macht.“
Violet schluckte. Wusste Lucas von der Leidenschaft seiner kleinen Schwester?
„Aber ich finde, Bücher sind viel mehr. Es sind treue Freunde. Natürlich kann kein Buch echte Freunde, also Menschen, ersetzen. Aber ein Buch ist immer da, ob Tag, ob Nacht. Es verlässt dich nie und sorgt stets für Ablenkung“, fuhr Allegra eifrig fort.
Schmunzelnd ließ sich Violet auf der Récamiere nieder. „Dann gibt es keine schlechten Bücher?“
Allegra machte eine wedelnde Handbewegung. „Es gibt gut geschriebene und schlecht geschriebene Bücher.“ Sie überlegte und lächelte. „Nein, es gibt keine schlechten Bücher.“
Violet erwiderte die Geste. „Kennst du den Roman `Sinn und Sinnlichkeit´?“
Allegra schüttelte den Kopf.
„Erinnere mich daran, dass ich es nach dem Dinner herunterhole, wir schmökern ein wenig darin.“ Bestimmt würde Allegra die Geschichte um die Dashwood-Schwestern ebenso mögen wie sie selbst. „Womit wollen wir uns nun die Zeit vertreiben, meine Liebe?“
Allegra öffnete die doppelte Flügeltür und schritt in den dahinterliegenden Saal. Sie breitete ihre Arme aus, um eine Pirouette zu drehen.
„Der Ballsaal.“
Beeindruckt trat Violet ein. Die Wände strahlten in sanftem Weiß, vergoldete Stuckverzierungen und prächtige Gemälde in goldenen Holzrahmen verschönerten selbige. Große Sprossenfenster reichten bis auf den glänzenden Holzboden hinab und offenbarten den Blick hinaus in den parkähnlichen Garten. Überall standen Kandelaber herum, während an der Decke ein gewaltiger Kronleuchter befestigt war.
„Das müssen traumhafte Bälle sein, die ihr auf Halcyon Manor feiert“, meinte Violet. Sie schlenderte an eines der Fenster, um auf den Garten hinabzusehen. Eine breite Treppe führte von der Terrasse hinunter zum Weg, der sich durch die Anlage schlängelte. Hinter ihr seufzte Allegra.
„Sie sollen grandios gewesen sein.“ Ihre Stimme klang sehnsüchtig.
Violet drehte sich um. „Bald hast du dein Debüt. Ich bin sicher, dein Bruder lässt ein fantastisches Fest ausrichten“, entgegnete sie.
Die Miene des Mädchens verdüsterte sich. „Es wird kein Debüt geben. Das lässt mein Zustand nicht zu, und gefeiert wurde hier das letzte Mal, als Lucas’ Mutter noch lebte. Danach gab es keine Gründe mehr.“ Abrupt lief Allegra aus dem Saal.
Violet folgte ihr, nachdem sie die Türen des Ballsaals verriegelt hatte. Sie fand Allegra in ihrem Zimmer. Auf dem Boden lagen helle Teppiche, die dem ehemaligen Männergemach eine freundliche Atmosphäre verliehen. Der schwache Farbgeruch verriet, dass man die Wände vor nicht allzu langer Zeit frisch gestrichen hatte. Das zarte Gelb harmonierte wunderbar mit der dunkelbraunen Wandtäfelung, und auf einer Chippendale-Kommode thronte ein riesiges Narzissenbouquet, dessen Arrangement mit dem der kleineren Gestecke auf den beiden Fensterbänken identisch war. Durch eins der offenen Fenster wehte der Wind und brachte die weißen Vorhänge am Himmelbett zum Flattern. Allegra stand am Fenster und blickte hinaus. Violet näherte sich und berührte sie sacht an der Schulter. Allegra wandte sich Violet zu. Ihre Augen glänzten.
„Du wirst ein Debüt haben. Jedes Mädchen hat eines“, versprach Violet.
„In meinem Fall liegen die Dinge anders. Und außerdem kann ich nicht tanzen.“ Sie klang so trübsinnig, dass es Violet ins Herz schnitt.
Violet schlug einen fröhlichen Ton an. „Siehst du, da haben wir doch schon einen Ansatzpunkt: Ich lehre dich zu tanzen, und dann kümmern wir uns um dein Debüt. Dein Bruder wird dir diesen Wunsch nicht abschlagen können.“ Zwar war Violet von ihren eigenen Worten nicht überzeugt, doch sie wollte ihren Schützling nicht so traurig sehen.
Sie griff nach Allegras Händen und begann, mit ihr durch den sonnendurchfluteten Raum zu tanzen. Allegra lachte.
„Siehst du? Ein
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