Masken der Begierde
bestimmen lassen. Kein anderer Mensch als sie selbst lenkte ihr Geschick und ihr Leben. Sie rief sich streng zur Ordnung und beschloss, nicht länger im Bett herumzuliegen, sondern aufzustehen.
Rasch erhob sie sich, wusch sich, kleidete sich an und trat ans Fenster. Grauer Nebel lag dick und schwer über der Landschaft, sodass man kaum einen Meter weit sehen konnte. Violet seufzte. Vereinzelt erkannte sie dunkle Umrisse. Froh, nicht hinaus zu müssen, wandte sie sich ab.
Sie fürchtete die erste Begegnung mit Lucas nach dieser Nacht. Es war nicht mehr wie zuvor. Und zugleich wusste Violet, dass sich nichts ändern durfte. Sie fühlte diese weibliche Schwäche in sich: den Wunsch, geliebt zu werden. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Sie verbot sich derartige Gedanken und wollte sich nicht in derartigen Gedankenspielen und Träumereien verlieren. Sie war überzeugt, dass Lucas’ Gefühle für sie nicht mehr als sexuelles Begehren waren. Damit konnte sie umgehen.
Sie beschloss, sich zu beschäftigen, bis Allegra ebenfalls aufstand. Allegra genoss es, morgens langsamer in den Tag zu starten, während Violet seit jeher eine Frühaufsteherin gewesen war.
Violet machte sich an der Kleidertruhe zu schaffen und befreite das Lederbüchlein. Sie kehrte damit ans Fenster zurück und drehte es in ihren Händen hin und her. Die Mischung aus Moder, Lavendel und Leder stieg Violet in die Nase. Sie setzte sich und klappte das Buch behutsam auf.
Am rechten oberen Rand stand ein Name in eilig hingekritzelten Buchstaben: Bethany Allegra St. Clare. Violet hielt das Tagebuch von Allegras Mutter in ihren Händen.
Violet strich zögernd über die trockenen Seiten, die an den Rändern vergilbt waren; unsicher, ob es sich schickte, dass sie darin las. Sie gehörte nicht zur Familie, war nur eine Angestellte, dennoch gab sie sich einen Ruck und öffnete das Deckblatt. Vielleicht fand sie in dem Büchlein Hinweise, Erklärungen, irgendetwas, womit sie Allegra helfen konnte.
Violet las eine Weile, überblätterte einige Seiten, schmökerte auf diese Weise eine ganze Zeitlang, ehe sie das Tagebuch schloss. Verwirrt blickte sie auf den Einband. Die Einträge waren rätselhafte, kryptische Notizen, deren Sinn Violet verborgen blieb.
Ob Bethany St. Clare ihre Träume aufgeschrieben hatte? Seltsame, verstörende Träume? Auf jeden Fall hatte sie kein schlechtes Gewissen mehr, darin geblättert und gelesen zu haben. Sie sah sich nicht nur als Allegras Gesellschafterin, sondern auch als ihre Freundin. Als solche betrachtete sie es als ihre Pflicht, Allegra vor allem Negativen zu bewahren. Der Gedanke, dass Allegra erfahren musste, dass ihre eigene Mutter verrückt gewesen war, erfüllte Violet mit Grausen. Die Idee, das Tagebuch Lucas zu geben, verwarf sie ebenfalls. Was würde er schon tun? Sie glaubte, ihn gut genug einschätzen zu können, um zu wissen, dass er das Journal ohne Umschweife ins Feuer werfen würde. Doch was, wenn sich die Niederschrift noch als hilfreich erweisen konnte?
Sie drückte das ledergebundene Buch an ihre Brust.
Allegra die Ergüsse eines scheinbar instabilen Geistes vorzuenthalten, gehörte zu den Dingen, vor denen Violet sie schützen wollte. Noch war sie unschlüssig, was sie in diesen Notizen gelesen hatte. Vielleicht erwiesen sie sich auch nur als die Fantasien einer äußerst miserablen Autorin.
Sie horchte, doch Allegra schien noch in seligem Schlummer versunken zu sein. Violet hielt es für angebracht, sich mit Mrs. Harvey, der Wirtschafterin, zu unterhalten. Soweit sie wusste, hatte Mrs. Harvey bereits Allegras und Lucas’ Vater gedient und kannte die Familie St. Clare damit recht gut.
Violet ließ die graue Stola von ihren Schultern gleiten, als sie die Küche betrat. Wärme schlug ihr entgegen. Auf dem Herd blubberte es in mehreren Töpfen, in denen eine der Küchenmägde rührte. Schweißperlen liefen über ihre Stirn, und ihr Gesicht war röter als das Erdbeergelee, das Allegra so sehr liebte.
Die Luft war dampfig und roch gleichzeitig verführerisch nach Brot und Kuchen. Auf einem der hinteren Tische reihten sich kleine Kuchen und Petit Fours für den Nachmittagstee aneinander.
Über dem Herd hingen blank polierte Kupfertöpfe und Pfannen sorgsam nach Größe sortiert, daneben befanden sich Kochlöffel, Pfannenwender und Suppenschöpflöffel. An einem Spülbecken stand eine hagere Magd und schrubbte einen riesigen Topf mit monoton wirkenden Bewegungen.
Mrs. Harvey beugte sich über einen
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