Mathias Sandorf
mehr an das Vorhandensein eines Verrathes an ihrer Sache. Für einen Mann seines Charakters aber war ein Sterben, ohne an dem Verräther Vergeltung geübt zu haben, wer immer es auch gewesen war und trotzdem er ihn nicht kannte, ein zweifacher Tod. Wer konnte es gewesen sein, der das Billet, dem die Polizei die Entdeckung der Verschwörer und deren Verhaftung verdankte, aufgefangen, gelesen, ausgeliefert, vielleicht auch verkauft hatte?… Gegenüber diesem unlöslich scheinenden Probleme wurde das überangestrengte Gehirn des Grafen fast eine Beute des Fiebers.
Er ging, während die Freunde schrieben oder stumm und unbeweglich dasaßen, unruhig, aufgeregt an den Mauern der Zelle entlang, wie ein der Freiheit beraubtes edles Thier.
Eine merkwürdige Erscheinung, die aber vollständig durch die Gesetze der Akustik zu erklären war, sollte ihm endlich das langgesuchte Geheimniß aufdecken, auf dessen Offenbarung er kaum noch zu hoffen gewagt hatte.
Schon einige Male hatte Graf Sandorf nahe dem Winkel auf seiner Wanderung Halt gemacht, welchen die innere Scheidewand mit der äußeren Mauer des Corridors bildete, auf den sich die verschiedenen in diesem Stockwerk gelegenen Zellen des Thurmes öffneten. In dieser Ecke, dicht neben der Thür glaubte er ein, noch wenig faßbares Gemurmel entfernter Stimmen zu vernehmen. Zuerst schenkte er der Beobachtung wenig Aufmerksamkeit, aber plötzlich ließ ihn das Aussprechen eines Namens, des seinigen, schärfer hinhorchen.
Hier spielte sich anscheinend ein akustisches Phänomen ab, ähnlich demjenigen, welches man im Inneren der Gallerien von Kirchen oder unter Wölbungen ellipsoidaler Form beobachten kann. Der Schall der Stimme ist, nachdem er den Contouren der Mauern gefolgt, von der einen Seite der Ellipse auf einen anderen Raum übergegangen, ohne von irgend einem dazwischen liegenden Punkte aufgehalten worden zu sein. Man findet diese Erscheinung in der Krypta des Pantheons in Paris, im Inneren der Kuppel von Sanct Peter in Rom; ebenfalls in der »
whispering gallery
«, der »tönenden Gallerie« von Sanct Paul in London. Unter den gegebenen Bedingungen wird selbst das kleinste und mit leisester Stimme gesprochene Wort deutlich im gegenüberliegenden Raume hörbar.
Es war zweifellos, daß sich zwei oder mehrere Personen, sei es auf dem Flur selbst, sei es in einer am äußersten Ende seines Durchmessers gelegenen Zelle unterhielten und daß der Brennpunkt sich nahe der Thür der von Mathias Sandorf bewohnten Zelle befand.
Ein Zeichen von ihm brachte seine Freunde in seine Nähe. Sie horchten mit aufmerksam gespannten Sinnen.
Es schlugen deutlich Bruchstücke von Redewendungen an ihr Ohr, zusammenhanglose Sätze, je nachdem sich die Sprecher, selbst unmerklich, von dem Punkte entfernten, dessen Lage die Erzeugung des Phänomens ermöglichte.
Sie hörten in Absätzen folgende Unterhaltung:
»Morgen nach der Execution werden Sie in Freiheit gesetzt…«
»Und dann werden die Güter des Grafen Sandorf zu gleichen Theilen…«
»Unsere drei Köpfe gehören Ihnen,« sagte Graf Sandorf. (S. 82.)
»Ohne meine Hilfe hätten Sie das Billet vielleicht nicht entziffern können…«
»Und wenn ich es nicht vom Halse der Taube genommen hätte, würden Sie es nie in die Hände bekommen haben…«
»Jedenfalls kann uns Niemand verdächtigen, daß es uns die Polizei zu danken hat…«
»Und wenn selbst die Verurtheilten jetzt einen Verdacht hegen…«
»Weder Verwandte noch Freunde, Niemand wird bis zu ihnen dringen…«
»Auf morgen, Sarcany…
– Auf morgen, Silas Toronthal…«
Die Stimmen schienen sich zu entfernen und bald hörte man eine Thür sich schließen.
»Sarcany und Silas Toronthal, sie, also sie sind es!« rief Graf Sandorf.
Er war bleich geworden und blickte seine Freunde an. Unter einem krampfartigen Zusammenziehen hatte einen Augenblick hindurch sein Herz zu schlagen aufgehört. Seine Pupillen hatten sich erschreckend erweitert, sein Hals sich geröthet, sein Kopf schien in die Schultern gesunken zu sein, Alles zeigte den furchtbaren, bis an die äußersten Grenzen der Möglichkeit getriebenen Zorn an, der ihn durchbebte.
»Sie, sie, diese Elenden!« wiederholte er, fast schreiend.
Endlich kehrte ihm die Besonnenheit zurück, er blickte um sich und durchmaß den Raum mit hastigen Schritten.
»Fliehen! rief er, wir müssen fliehen!«
Und dieser Mann, der einige Stunden später muthig in den Tod gehen wollte, dieser Mann, der nicht einmal
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