Mathias Sandorf
Stadt.
Dieser Stradone ist ein wundervoller, gepflasterter Straßenzug, der vom Borgo-Pille bis zur Vorstadt Plocce, also durch die ganze Stadt läuft. Er verbreitert sich am Fuße eines Hügels, auf dem sich ein vollständiges Amphitheater von Häusern aufbaut. An seinem Ende erhebt sich der alte Dogenpalast, ein schönes Bauwerk aus dem fünfzehnten Jahrhundert, mit einem inneren Hof, einer Säulen halle im Renaissancestyl und Fenstern mit Vollbögen; die schlanken Säulchen erinnern an die Blüthezeit der toscanischen Architektur.
Der Doctor brauchte nicht so weit zu gehen. Die Marinella-Straße, die ihm Borik Tags zuvor genannt hatte, biegt in der Mitte der Länge des Stradone nach links ab. Sein Schritt verlangsamte sich ein wenig, als er einen schnellen Blick an einem aus Granit erbauten Palaste emporwarf, dessen reiche Façade und Nebengebäude in schiefem Winkel zu seiner Rechten aufstiegen. Durch das offenstehende Hofportal konnte man einen Herrenwagen mit herrlichem Gespann davor, den Kutscher auf seinem Bocke und einen Bedienten erblicken, der vor dem von einer eleganten Veranda überdachten Perron wartete.
Ein Herr kam gerade jetzt aus dem Hause und bestieg den Wagen; die Pferde zogen an, trabten auf die Straße und hinter ihnen schloß sich das Thor.
Jener Herr war derselbe, der drei Tage zuvor Doctor Antekirtt auf dem Quai von Gravosa angesprochen hatte, der ehemalige Banquier in Triest, Silas Toronthal.
Der Doctor wollte ein Zusammentreffen mit demselben möglichst vermeiden und trat schnell bei Seite; er ging aber erst weiter, als der schnell dahinrollende Wagen am Ende des Stradone verschwunden war.
»Beide in derselben Stadt, murmelte er; Schuld des Zufalls, nicht die meinige.«
Eng, eckig, schlecht gepflastert, ärmlich aussehend sind die Straßen, die links vom Stradone abführen. Man möge sich einen breiten Strom vorstellen, der auf seiner einen Seite nur Regenbäche als Nebenflüsse aufweist. In dem Verlangen, etwas Luft zu genießen, scheinen die Häuser übereinander zu klettern, sich gegenseitig zu stoßen. Auge blickt in Auge, wenn man die Fenster oder Mansarden, die sich auf ihrer Vorderseite öffnen, so bezeichnen darf. So gestaltet ziehen sie sich bis auf die eine der Anhöhen hinauf, deren Gipfel von den Forts Mincetto und San Lorenzo gekrönt sind. Ein Wagen kann hier nicht fahren. Zur Regenzeit bilden diese Straßen vollständige Regenbäche; aber auch zu anderen Zeiten bilden sie wahre Schluchten, und man hat die Abhänge und Unebenheiten ihres Bodens durch Absätze und Stufen beseitigen müssen. Ein in die Augen springender Abstand zwischen den bescheidenen Behausungen hier und den Prachtbauten auf dem Stradone…
Der Doctor kam an den Eingang der Marinella-Straße und begann die unendliche Treppe derselben hinaufzusteigen. Er mußte mehr als sechzig Stufen nehmen, bis er vor das Haus Nummer 17 gelangte.
Dort öffnete sich sofort die Thür. Der alte Borik erwartete den Doctor. Er führte ihn, ohne ein Wort zu sprechen, in ein sauber gehaltenes, doch ärmlich ausgestattetes Gemach.
Der Doctor setzte sich. Nichts erweckte den Anschein, als ob seine Anwesenheit in dieser Behausung auch nur die leiseste Bewegung in ihm wachrief – nicht einmal als Frau Bathory eintrat und ihn ansprach:
»Herr Doctor Antekirtt?
– Jawohl, gnädige Frau, antwortete dieser sich erhebend.
– Ich hätte Ihnen gern die Mühe erspart, so weit zu kommen und so hoch zu steigen, Herr Doctor.
– Ich bestand darauf, Ihnen einen Besuch zu machen, gnädige Frau, und ich bitte Sie, glauben zu wollen, daß ich Ihnen vollständig zu Diensten stehe.
– Ich habe erst gestern von Ihrer Ankunft in Gravosa gehört, Herr Doctor, und habe sogleich Borik zu Ihnen geschickt und Sie um eine Unterredung mit mir ersuchen lassen.
– Ich bin, wie Sie sehen, bereit, das Nähere von Ihnen zu hören.
– Darf ich mich zurückziehen? fragte Borik.
– Nein, bleibe, sagte Frau Bathory. Du als einziger Freund meines Hauses weißt, was ich Herrn Doctor Antekirtt zu sagen habe.«
Frau Bathory setzte sich und der Doctor nahm vor ihr Platz, während der Greis am Fenster stehen blieb.
Die Witwe des Professors Stephan Bathory stand jetzt in ihrem sechzigsten Jahre. Obgleich ihre Haltung trotz des hohen Alters noch eine kerzengerade war, so verriethen ihr völlig weißes Haar und das von Falten durchfurchte Gesicht dennoch, wie sehr sie gegen den Kummer und das Elend hatte ankämpfen müssen. Man merkte indessen, daß
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