Matrjoschka-Jagd
sie.
»Aha«, sagte er. »Aber ich habe endgültig genug von diesem Thema.«
Nore Brand schwieg. Sie war noch nicht ganz so weit.
»Nur noch etwas.« Ninos Gesicht war auf einen Schlag todernst geworden. »Meine Mutter sagt Nino Alberto zu mir. Nino Alberto der Erste. Grauenhaft.«
Sie biss ihre Lippen zusammen. Arme Söhne und arme Mütter, wenn der Prinzentraum platzte.
Er stand mit hochroten Ohren vor ihr. »Sag nie wieder Nino Alberto zu mir. Es gibt für mich nichts Peinlicheres.«
»Es tut mir leid. Ich sag’s nie wieder.«
»Da ist noch etwas.« Nino wand sich. »Hast du eigentlich einen Mann?«, brach es aus ihm heraus.
Sie lächelte.
»Bist du frisch verliebt?«
»Vielleicht, ja.«
Nino atmete auf. »Wann hast du ihn kennengelernt?«
»Vor 35 Jahren.« Und was dazwischen lag, war überstanden.
»Was? Vor 35 Jahren? Ist das ein Witz?«
»Nein. Kein Witz. Wir waren in der gleichen Klasse. Eines Tages zog er mit seiner Familie zurück nach Lausanne. Vor Kurzem haben wir uns wiedergesehen, bei einem Klassentreffen.«
»Wie ist er?«
Sie schaute nach dem Barmann. »Sag mal, hast du eigentlich noch nichts bestellt«?
»Nore, das gilt nicht! Sag, wie ist er.«
»Er ist groß geworden. Damals war ich um einen Kopf größer als er.«
Sie dachte an den schüchternen Kuss in der Schulbibliothek. Jacques auf Zehenspitzen. Und nun, 35 Jahre später wusste sie, wie sich ein Kuss auf Zehenspitzen anfühlte.
»Du strahlst ja! Aber ausgerechnet ein Welscher. Wie heißt er denn?«
»Jacques.«
»Jacques«, wiederholte Nino, »muss ich mir den Namen merken?«
»Ich denke schon.«
»Kannst du französisch?«
»Ein bisschen, aber ich möchte meine Kenntnisse etwas vertiefen.«
»Es hat dich also total erwischt. Ich wusste es von Anfang an.«
»Das wusstest du nicht.«
»Natürlich. So etwas spüre ich immer. Ist er Polizist?«
»Nein, er ist Koch. Er reist auf einem Postschiff der Luxusklasse ans Nordkap und testet Fischstäbchen für eine kulinarische Zeitschrift.«
»Ist das jetzt ein Witz?«
»Nein, das stimmt. Leider. Aber vermutlich geht’s nicht um Fischstäbchen.«
Nino verzog sein Gesicht. »Hoffentlich nicht. Fischstäbchen, bäh, ekelhaft. Dann bin ich doch lieber Polizist.«
»Ja, ich auch. Aber komm, bestell endlich etwas!«
DER LETZTE STREICH DER ROTEN KLARA
Bärfuss hatte auf sie gewartet. »Nore. Endlich, komm herein.«
»Bist du wieder gesund?«
»Danke. Es war eher unangenehm als schlimm. Setz dich und erzähl.«
Was sie auch tat. Kurz und bündig.
Als sie fertig war, beugte er sich vor. »Die Sache mit der Betrügerin ist ja nun erledigt. Sie heißt Evi Ramseier. Von Sumiswald. Sie ist eine ausgebildete, aber leider arbeitslose Schauspielerin. Jetzt erleidet sie Schiffbruch, und das mit ihrem ersten großen Projekt, die Ärmste. Sie ist doch talentiert, oder?«
»Das muss man sagen, ja«, bestätigte Nore Brand mit einem kleinen Lachen.
»Eine Emmentalerin also. Emmentalerinnen werden meiner Meinung nach immer noch sträflich unterschätzt. Das Frauengefängnis macht neuerdings Theaterprojekte. Da wird sie sich wenigstens nicht langweilen. Aber dass ausgerechnet die Russen kommen. Früher hatten wir Uncle Sam aus Amerika und kaum hat der ausgedient, steht der Onkel aus Russland vor der Tür.«
Nore Brand winkte ab. »Falsch. Der war schon hier. Mit zwei kleinen Bären im Gepäck. Hast du sie noch nicht gesehen?«
Bastian Bärfuss erhob sich von seinem Sessel und blieb einen Moment stehen. »Natürlich. Was denkst du denn? Der Russe bringt uns unser Wappentier. Drollige Kerle, die zwei Kleinen. Aber du weißt ja, die wachsen rasch und werden gefährlich. So ein seltsamer Zufall. Was soll ich davon halten? Ich verstehe diese Welt nicht mehr. Findest du, ich bringe die Sachen durcheinander?«
»Nein, ich glaube nicht.«
Es war in der Tat alles durcheinandergeraten. Ihr Chef glaubte an den Osterhasen, an Sankt Nikolaus und an das Bernsteinmärchen. Das machte ihn sogar sympathisch. Tragisch war nur, dass er die Geschicke einer internationalen Kunstmission leitete.
In dieser verrückten Welt passte dies wunderbar zusammen.
Doch was war in diesem Fall die Wahrheit?
Bastian Bärfuss erhob sich und machte ein paar ziellose Schritte durch sein kleines Büro, blieb dann vor dem Fenster, das auf die winterlich graue Aare hinunter zeigte, stehen, starrte eine Weile bewegungslos auf einen Punkt am gegenüberliegenden Aarehang, bis ihn das ferne Aufheulen einer Ambulanz
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