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Matrjoschka-Jagd

Matrjoschka-Jagd

Titel: Matrjoschka-Jagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marijke Schnyder
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in die Wirklichkeit zurückholte.
    Er klopfte mit der Pfeife ans Fenster. »Im Winter habe ich sie richtig gern, die Aare.« Er drehte sich zu Nore Brand. »Im Winter verlangt kein Mensch von mir, dass ich da hinein muss. Als Bub hielt ich mich deshalb für einen Feigling, bis ich einmal fast abgesoffen bin. Dann war ich geheilt. Lieber ein lebendiger Feigling als ein toter Held. Du kennst ihn ja, den alten Brecht. Der bekommt doch immer wieder mal recht.«
    Bastian Bärfuss kaute gedankenverloren an seiner erkalteten Pfeife und starrte auf die Aare hinunter. Nach einer Weile trat er vom Fenster zurück und setzte sich wieder in das abgewetzte Kuhfell, das seinen Korbsessel auskleidete. Der Hausdienst versuchte seit Jahren vergeblich, ihm einen zeitgemäßen Bürosessel hinzustellen. Aus Leder und Chromstahl.
    »Ausgerechnet die Russen.«
    Nore Brand schaute auf. »Warum auch nicht?«
    »Sind es nur kulturelle Investoren oder haben wir es gleich mit den alten Geheimdienstlern und ihrer Brut zu tun?«
    »Muss man da einen Unterschied machen?«
    Bastian Bärfuss legte das Gesicht in seine großen Hände. »Dann gnad’ uns Gott.«
    Als er wieder aufschaute, sah sie die Zeichen von Nächten ohne Schlaf unter seinen Augen.
    »Aber warum gerade hier? In unseren Bergen? Was haben die hier verloren?«
    »Verloren haben sie nichts. Aber sie haben etwas gefunden bei uns.« Nore Brand lachte widerwillig. »Verstecke eben, alte, aber sichere Festungsanlagen.«
    Sie hatte die Berge immer für ewig gehalten. Doch man hatte sie vor langer Zeit einmal aufgerissen und zerlöchert, hatte für eine Regierung und eine Armee einen sicheren Hort geschaffen. Nicht für alte und schwache Menschen und für Kinder, nein, für Politiker und Generäle!
    Bastian Bärfuss wischte die Pfeife an seinem Pullover ab.
    Er brach seufzend ab. »Ich muss mich noch bei dir entschuldigen, Nore. Ich wusste, dass du hartnäckig und solch seltsamen Sachen gewachsen bist. Ich habe die Nerven und die Ausdauer nicht mehr dazu, deshalb musstest du das tun. Die Kerle da oben müssen wissen, dass man ihnen auf die Finger schaut.« Er deutete mit der Pfeife an die Decke.
    »Soll ich dir noch danken dafür?«
    »Nein. Es ist an mir zu danken.« Er saß da in seinem verschlissenen grünen Strickpullover. Bastian Bärfuss hatte im Laufe der Jahre nicht wenige Frauen zum Stricken gebracht.
    Er lächelte. »Wie ist es nur möglich, dass unser Chef an dieses Märchen glaubt.« Er schüttelte den Kopf und lachte lautlos. »Das Bernsteinzimmer. Eine wunderbare Geschichte. Aber kann einer so naiv sein? Die Sache ist geklärt, oder? Es ist verbrannt, wie so vieles in jener unseligen Zeit. Doch heute gibt es ein wunderbares Imitat in St. Petersburg. Genauso kostbar wie das alte. Dass unser Chef ein solcher Träumer ist? Das ist ja nicht zu fassen.«
    Nore Brand lehnte sich zurück, schaute durch das Fenster in den grauen Berner Himmel und lachte.
    »Nein, Nore, er ist kein Träumer, er ist ein Kindskopf und das gefällt mir nicht. Das ist gefährlich.«
    Gefährlich für wen? Sie mochte nicht mehr darüber reden.
    Der Fall der Millionärin Klara Ehrsam hatte wie eine unangenehme, aber alltägliche Geschichte angefangen. Eine Geschichte, die andere in sich versteckte. Wie eine Matrjoschka. Diese große, dicke, bunte, freundliche Frauenfigur, die viele kleinere in sich barg. Nore Brand hatte sie auseinandergeholt, Puppe um Puppe. Die letzte und kleinste war die geheimnisvollste: Sie war das Geheimnis selbst und ihr süßes, rotbackiges Lächeln war die letzte Maske in diesem Fall. Nur das musste sie noch herausfinden. Wer steckte hinter diesem letzten Lächeln?
    Draußen wehte ihr ein eisiger Wind entgegen.
    Sie ging am Oppenheimbrunnen vorbei über den Waisenhausplatz, nahm beim Bärenplatz das Tram, stieg beim Bahnhof aus, eilte mit Hunderten durch den Bahnhof, wartete mit Dutzenden auf den Lift, der sie auf die Große Schanze hinaufbringen sollte. Sie eilte auf die Einstein-Terrasse, um den Menschen zu entfliehen. Sie sah den Gurten, die hintere Seite der Heiliggeistkirche, die leuchtende Kuppel des Bundeshauses und dann diese Berge: Eiger, Mönch und die mächtige Jungfrau, schneeweiß.
    Der Wind zerbiss ihr Gesicht, aber das spürte sie nicht; es waren diese Berge, diese unbegreifliche und entrückte Schönheit, die nicht nur in den Augen schmerzten. Diese Berge bargen ein letztes Geheimnis.
    Sie hörte das heimliche Kichern der letzten Puppe.
    Nore Brand wandte sich

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