Matti & Dornröschen 01 - Das Dornröschen-Projekt
Augen las er: Du hast ihn doch damals verflucht, diesen Schmücker-Mord, getötet von den eigenen Genossen, weil er ein Spitzel war. Fememord hast du es genannt in deiner Verzweiflung. Erinnerst du dich nicht? Natürlich wusste er es noch. Sie war ihm jetzt so nah.
»Das ist kein Spielkram, der Schmücker hatte seine Genossen beim VS verpfiffen, nicht bei einem Killerkommando«, sagte er mit heiserer Stimme.
Sie blickte ihn an und nickte endlich.
»Arbeitest du für den VS ?«, fragte er.
Sie nickte.
»Seit wann?«
Wieder dieser Blick, in dem er ihre Angst las, aber auch ihre Vertrautheit miteinander. Es schmerzte.
Er legte seine Hand an den Pistolengriff, der aus dem Hosenbund ragte.
»Einundneunzig oder zweiundneunzig, genau weiß ich es nicht mehr«, sagte sie.
»Warum?«
Sie zögerte, seine Hand lag wieder auf dem Pistolengriff. »Sie haben mich ganz gemein erpresst.«
»Du hast zwanzig Jahre für den VS gearbeitet?«
Sie nickte und schniefte.
»Womit haben sie dich erpresst?«
Sie schluckte und wand sich so verzweifelt wie sinnlos. »Sie haben was über mich gefunden.«
»Was?«, schrie er. Hatte sie an einer Aktion teilgenommen, hatte sie Kontakte zum 2. Juni oder zur RAF gehabt? Er sah es vor sich, wie sie sich in ihrer Tatenwut zu etwas Saudummem hinreißen ließ. Sie konnte außer sich geraten vor Zorn über Ungerechtigkeiten, sie litt, wenn sie nicht gleich etwas dagegen tun konnte. Sie warf es sich vor, wenn sie nichts gefunden hatte, und wenn es nur ein Stein war, mit dem sie das Fenster einer Bullenwache einwerfen konnte. Sinnlos, aber beruhigend. Wenigstens für eine Weile.
»Ich weiß nicht, wie sie die gefunden hatten …« Sie stotterte und brach ab.
»Wie sie was gefunden hatten?«, schrie er.
Sie schaute ihn flehend an.
Twiggy hustete, Dornröschen saß wie erstarrt auf dem Boden. Bleiern.
Matti schwitzte und fror, die Luft war feucht.
»Als diese Idioten die Normannenstraße besetzt haben, da hat der VS Akten über mich bekommen.« Sie weinte unhörbar. Es war still. Matti warf einen Blick durch die offene Tür hinaus. Der Wald stand wie eine schwarze Wand, riesig, undurchdringlich. Mattis Hirn rotierte. Normannenstraße, Sitz der Stasi, gestürmt von den Bürgerrechtlern, Akten über Lily. Er erinnerte sich an die Bilder im Fernsehen. Akten, überall Akten, Registraturen, empörte Menschen, neugierige Menschen, wichtigtuerische Menschen, ängstliche Menschen, ein wildes Durcheinander. Und mittendrin die Westgeheimdienste, die zusammenrafften, was sie zusammenraffen konnten unter den Augen der naiven Aufrechten, die gegen ihren Willen halfen, dass aus Geheimnissen Ost Geheimnisse West wurden. Dazu Akten gegen Geld und Freiheit, Stasi-Offiziere, die sich freikauften. Und Rauchsäulen über den großen und kleinen Filialen der Unterdrückung. Aber was hatte Lily damit zu tun?
»Welche Akten?«
»Über mich«, sagte sie zögernd.
»Sie haben dich bespitzelt. Da warst du nicht die Einzige, na und?«
»Du verstehst es nicht, Matti«, sagte Dornröschen traurig. »Das kann man auch nicht verstehen. Die Genossin hat für die Stasi gespitzelt.« Sie schüttelte den Kopf.
»Stimmt das?«, fragte Matti. Und als sie nicht antwortete, sondern ihn nur anstarrte, schrie er: »Stimmt das?«
Sie nickte.
Matti stieg aus und starrte in die Schwärze. Er hörte, wie Lily leise wimmerte. Dann stieg er wieder ein und kniete sich vor sie. »Warum?«
»Ich habe mal mit der SEW sympathisiert, aber als ich eintreten wollte, haben sie mir gesagt, sie hätten eine bessere … Verwendung für mich. Ob ich bereit sei, für den Sozialismus an der Front zu arbeiten, an der unsichtbaren Front, haben sie gesagt.«
Matti schüttelte ratlos den Kopf.
»Mein Gott, ich war achtzehn«, sagte sie.
»Und du hast bis zum Ende für die gespitzelt?«, fragte Matti.
»Es würde der Linken nicht schaden, haben sie gesagt. So könnten sie besser helfen. Und es dürfe auf keinen Fall einen Terroranschlag in der DDR geben. Meine Augen seien ihre, und was ich sähe, sähen sie auch. Ich sollte dorthin blicken, wo sonst niemand hinblickt. Meine Ohren seien ihre Ohren, und ich sollte dorthin hören, wo sonst niemand hinhört. Außer ihren Feinden, nämlich der politischen Polizei und dem VS . Wenn ich gegen den Imperialismus kämpfen wolle, könne ich so am wirksamsten sein.« Sie sprach schnell, wie aufgezogen, wie auswendig gelernt. Sie musste sich das immer wieder vorgesagt haben in den vergangenen Jahrzehnten.
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