Matto regiert
dem offenen Schrank, in dem wenige Bücher unordentlich herumlagen. Auf dem Schreibtisch war ein dreiteiliger Rahmen aufgestellt: Photographien… Mädchen, Männer, ein Brautpaar, Kinder… Enkel des alten Direktors?…
»Aaahh«, machte Studer ganz laut.
Jetzt konnte er ganz genau sehen, was die Wohnung durchdrang:
Einsamkeit .
Ein alter Mann, der zum Bärenwirt flieht, weil er die Einsamkeit nicht mehr aushält. Zwei Frauen sind ihm gestorben. Die Kinder weit weg… Die Enkel kommen nur in den Ferien… Und die jungen Pflegerinnen, mit denen man spazieren geht?… Ein alter Mann kämpft gegen die Einsamkeit, und es ist ein hoffnungsloser Kampf…
Studer schlich davon, schlüpfte ins Stiegenhaus, hastete in den zweiten Stock, betrat die Wohnung. Frau Laduner kam ihm entgegen. Ein Pfleger habe nach ihm gefragt, sie habe ihn ins Gastzimmer geführt.
Als Studer die Türe öffnete, saß der kleine Gilgen auf dem Rande eines Stuhls, und sein Gesicht war bleich und ängstlich…
3.
Gilgen kratzte sich die Glatze. Er hatte einen Rock angelegt, der viel geflickt war. Aus der Tasche des Rockes zog er nun ein Blatt Papier, vierfach zusammengefaltet, und reichte es Studer. Der Titel war mit schöner Rundschrift gemalt, und es war eine Art Widmung:
»Dem sehr verehrten und sehr gütigen und sehr weisen Inspektor Jakob Studer von einem großen Kriegsverletzten gewidmet im Auftrage Mattos, des großen Geistes, dessen Reich sich weitet über das Erdenrund.«
Und dann kam das sonderbare Stück Prosa, das Studer am Morgen gelesen hatte, aber es begann ein wenig anders:
»Wenn der Nebel den Regen spinnt zu dünnen Fäden…« Und so weiter… und so weiter… Es kam der Abschnitt über die bunten Papiergirlanden, die über die Welt flattern, und dann flackern Kriege auf, es kam der Satz über die roten Bälle und die Revolutionen lodern zum Himmel… Es war ähnlich und doch anders. Diesmal berührte es Studer merkwürdig, und es fröstelte ihn ein wenig. Es war soviel passiert inzwischen… Er hatte den Direktor gefunden am Fuße der Eisenleiter… Er hatte die Wohnung gesehen und die Einsamkeit eines alten Mannes begriffen… Er hatte das Aufatmen Dr. Laduners gesehen und das Aufatmen seiner Frau…
Und Wachtmeister Studer las den letzten Abschnitt von Schüls ungereimtem Gedicht. In diesem hieß es:
»Matto! Er ist mächtig. Alle Formen nimmt er an, bald ist er klein und dick, bald schlank und groß, und die Welt ist sein Puppentheater. Sie wissen nicht, die Menschen, daß er mit ihnen spielt wie ein Puppenspieler mit seinen Marionetten… Und dabei sind seine Fingernägel lang wie die eines chinesischen Gelehrten, gläsern und grün…«
Der gute Schül! Mattos Fingernägel schienen ihn zu beschäftigen… Aber, was war denn los? Studer fühlte sich unbehaglich, aber es war nicht mehr Schüls ›Dichtung‹, es war etwas anderes…
»Wer spielt denn da in einem fort Handharpfe?« fragte er ärgerlich. Man konnte nicht feststellen, woher der Ton kam. Drunten im Ärztebüro schon hatte er die Musik gehört, fern und leise, hier war sie lauter zu hören, sie schien aus den Wänden zu dringen oder von der Decke herabzusickern…
Er blickte auf den rothaarigen Gilgen und bemerkte, daß der kleine Mann bleich geworden war. Das sah sonderbar aus, die Sommersprossen traten so deutlich hervor wie Rostflecken auf mattem Stahl.
»Was ist los, Gilgen?« fragte Studer.
»Nüt, Herr Wachtmeister…« Und ob Studer wirklich wissen wolle, wer spiele? Das werde nicht festzustellen sein. In der Anstalt habe es so viele, die Handharpfe spielten, es könne aus irgendeiner Abteilung dringen…
Studer gab sich zufrieden, obwohl ihn das Handharpfenspiel unleidig machte. Er hätte nicht sagen können, warum. Er versuchte, sich auf etwas zu besinnen, das ihm am Morgen aufgefallen war, es war etwas, das mit Handharpfenspiel zusammenhing, aber er konnte sich nicht besinnen…
»Wachtmeister«, sagte der kleine Gilgen und stockte. Dann, als Studer ihm aufmunternd zugenickt hatte, kam die Bitte: – Studer möge doch den Dr. Laduner bitten, daß er nicht entlassen werde… – Entlassen? Warum sollte er entlassen werden?
Eine traurige Geschichte erzählte der Gilgen. Er habe ein Hüüsli gekauft, vor vier Jahren… Achtzehntausend Franken. Siebentausend habe er angezahlt, der Rest sei erste Hypothek… Und es sei gut gegangen… Aber nun sei die Frau krank und in Heiligenschwendi oben, sie habe es auf der Brust… Schulden, ja!… Und
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