Matto regiert
Randlingen und der alte Mann, der das Genick gebrochen hatte, es versank Pierre Pieterlen, dessen Signalement man verbreiten sollte, es versank Dr. Laduner mit seinem Maskenlächeln, über das man sich den Kopf zerbrechen mußte…
… Und vor Studer breitete sich aus ein Gewirr von Türmen und Dächern, aus dem dumpf ein Summen stieg, unterbrochen bisweilen von kurzen, schrillen Klängen. Nebelfahnen wehten, und glitzernd schlängelte ein Fluß sich durch die Häuserebene. Er stand auf der Höhe von Montmartre und sah auf Paris. Neben ihm saß eine Frau, sie sang und begleitete sich auf der Gitarre:
»J'ai tout quitté pour ma charmante Sylvie…«
Ihre Stimme war ungeschult, dunkel und voll Traurigkeit… Es gab einen scharfen Knack, Studer stand wieder im Gange der Wohnung. Das Holz der Türfüllung, an der sein Kopf lehnte, hatte nachgegeben.
Schritte näherten sich, dann ging die Türe auf.
Frau Laduner trug den Zwicker auf der Nase. Sie blinzelte angestrengt in den dunklen Gang, ihre Augen näherten sich Studers Gesicht auf Handbreite, dann lachte sie…
»Der Herr Studer!« Und er solle doch innecho, statt im Gang draußen stehen zu bleiben, und dann abhocken. Es habe noch Tee… Etwas Kirsch dazu? Ja?… Und »Chaschperli, säg guete Tag!« Das sei der Herr Studer, der im Gastzimmer wohne…
Man war der Herr Studer… Man durfte vergessen, daß man Wachtmeister an der Fahndungspolizei war und dazu verdammt, Verbrechen aufzuklären… Man wurde in einen grünen Armstuhl gedrückt, ein Servierboy stand plötzlich vor ihm, der Tee, der in die Tasse floß, war dunkel wie Mahagoni, es gab einen Gutsch Kirsch darein, und dann mußte man geröstetes Brot nehmen, das warm war und auf dem der Anken zerfloß… Toast nannte man das wohl…
Ob Frau Doktor so gut sein wolle und noch eins singen, fragte Studer. Die Tapeten des Zimmers waren von einem dunklen Gelb, aber über dem schwarzen Klavier lag auf der Wand ein Sonnenfleck, der wie Weißgold schimmerte…
Frau Laduner sagte, sie könne ja gar nicht singen; doch war keine Geziertheit und falsche Bescheidenheit in dieser Behauptung. Überhaupt gehörte diese Behauptung in die gleiche Gruppe wie die Bemerkung am Morgen: Man gefiele der Frau Doktor ›nid übel‹… Das war tröstlich.
Das Chaschperli sagte ungeduldig: »So! Muetti!«
Und Frau Laduner setzte sich ans Klavier. Ihre Hände waren kurz und dick, die unteren Gelenke der Finger gut gepolstert. Sie sang ein Lied, sie sang zwei Lieder. Studer trank Tee.
Die Frau stand auf. – Nun sei es genug, sagte sie, und was es Neues gebe… – Er habe den Direktor gefunden…
»Tot?«
Studer nickte schweigend, und Frau Laduner schickte ihren Sohn aus dem Zimmer.
»Soso«, sagte sie dann. »Eigentlich hat es ja so kommen müssen…«
Und Studer war einverstanden. Ja, es hatte so kommen müssen…
– Sie wisse nicht, sagte Frau Laduner, ob Studer begreifen könne, was das für ihren Mann zu bedeuten habe… Ob er sich schon ein Bild habe machen können vom Ernst?… Von seinem Charakter? Von seiner Art?… Er habe sehr darunter gelitten, daß er alle Arbeit habe machen müssen. Mein Gott, wie habe die Anstalt ausgesehen bei seiner Ankunft in Randlingen… »Die Kranken sind herumgehockt auf den Abteilungen… Im B haben sie den ganzen Tag gejaßt, das K sah aus wie ein Museum gotischer Figuren… Die Kranken sind herumgestanden, mit verrenkten Gliedern, der eine hat wie ein Wasserspeier den ganzen Tag auf dem Heizungskörper im Korridor gehockt, und gestunken hat es!… Die Badewannen waren den ganzen Tag besetzt. Von den Unruhigen. Die Zellenabteilung war überfüllt… In der Nacht haben sie geschrieen, daß ich mich fast gefürchtet habe, so tönte es über den Hof. Wissen Sie, was Arbeitstherapie ist?«
Studer mußte lächeln, weil er an den Blitzzug denken mußte, der ihm heut morgen begegnet war.
»Warum lächeln Sie?« fragte Frau Laduner, und Studer gab den Grund an.
»Das ist nur ein Teil, und ich verstehe, daß es euch komisch vorgekommen ist. Man sucht die Kranken zum Arbeiten anzuhalten… Mein Mann hat große praktische Begabung, er hat Arbeiten direkt erfunden, er hat den Wärtern (damals sagte man noch Wärter) Kurse gegeben, er ist des Tages fünf-, sechs-, zehnmal über die Abteilungen gegangen; – er, der sonst immer gern flucht, wenn etwas nicht geht, er war geduldig… Und der Direktor ist jeden Abend zum Bärenwirt seinen Dreier trinken gegangen, hat seine Köchin geheiratet, hat
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