Matto regiert
verschwunden, er tauchte wieder auf, da war das Hauptportal, und zum Eingangstor führten abgerundete Stiegen empor. Der Wagen hielt. Die beiden stiegen aus.
Brot und Salz
Auf das erste Fenster rechts vom Eingang wies Dr. Laduner und sagte:
»Das Büro des Direktors…«
Ein faustgroßes Loch in der untern Scheibe links… Glassplitter lagen auf dem Fenstersims und auf dem Beet verstreut, das die Einfahrt von der roten Mauer trennte.
»Drinnen sieht es ziemlich grausig aus. Blut am Boden, die Schreibmaschine neben dem Fenster streckt alle Tasten von sich, der Bürostuhl ist in Ohnmacht gefallen… Wir können uns die Bescherung später ansehen, es pressiert nicht, und dann können Sie ja Ihre kriminologischen Fachstudien in Ruhe betreiben…«
Warum klang nur das Witzeln so gezwungen?… Gekünstelt?… Studer blickte auf Dr. Laduner, so, als müsse er ein Bild festhalten, das im nächsten Augenblick ganz anders aussehen würde… Der graue Anzug, das leuchtende Kornblumenblau der Krawatte und die Strähne, die abstand wie der Federschmuck vom Kopfe eines Reihers… Das Lächeln – die Zähne des Oberkiefers waren breit, wohlgeformt, elfenbeingelb… Sicher rauchte Dr. Laduner viele Zigaretten…
»Kommen Sie, Studer, wir wollen nicht anwachsen. Eins will ich Ihnen sagen, bevor wir eintreten durch dieses Tor: Sie kommen zum Unbewußten zu Besuch, zum nackten Unbewußten, oder wie es mein Freund Schül poetischer ausdrückt: Sie werden eingeführt ins dunkle Reich, in welchem Matto regiert. Matto!… So hat Schül den Geist des Irrsinns getauft. Poetisch, gewiß…« – Dr. Laduner betonte das Wort auf der ersten Silbe. – »Wenn Sie aus der ganzen Sache klug werden wollen, und ich habe eine dunkle Ahnung, daß sie komplizierter ist, als wir jetzt meinen, wenn Sie klug werden wollen, so werden Sie in viele Häute schlüfen müssen…« (›schlüfen‹ sprach der Arzt wie ein schriftdeutsches Wort aus)… »in meine Haut zum Beispiel, in die vieler Pfleger, diverser Patienten… ›Patienten‹ sage ich, und nicht ›Verrückte‹… Dann dämmert Ihnen vielleicht langsam das Verständnis auf für den Konnex zwischen dem Verschwinden unseres Direktors und der Flucht des Patienten Pieterlen… Es sind da Imponderabilien…«
›Imponderabilien!‹… ›Konnex!‹… und ›ge-wiß‹, auf der ersten Silbe betont. Das alles gehörte zur Persönlichkeit, die Laduner hieß.
»Übrigens, die Diskrepanz, die zwischen der realen Welt und unserem Reich besteht«, sagte Dr. Laduner und stieg langsam die Stufen empor, die zum Eingangstor führten, »wird Sie vielleicht am Anfang unsicher machen. Sie werden sich unbehaglich fühlen, wie jeder, der zuerst eine Irrenanstalt besucht. Aber dann wird sich das legen, und sie werden keinen großen Unterschied mehr sehen zwischen einem schrulligen Schreiber Ihres Amtshauses und einem wollezupfenden Katatonen auf B.«
An der Mauer rechts vom Eingangstor hing ein Barometer, dessen Quecksilbersäule im Morgenlicht rötlich schimmerte. Eine Turmuhr schlug mit saurem Klange vier Viertel und dann, kaum süßer, die Stunde: sechs Uhr. Der letzte Schlag schepperte. Studer wandte sich noch einmal um. Der Himmel hatte die Farbe jenes Weines, den man Rosé nennt; Vögel schrieen in den Tannen, die zu beiden Seiten der Auffahrt hinter eisernen Gittern wuchsen. Der schwarze Kirchturm des Dorfes Randlingen war weit weg.
Nach dem Tor, das ins Innere führte, kamen wieder Stufen. Rechts eine Art Opferstock mit einer Tafel: ›Gedenket der armen Kranken!‹ Darüber eine grüne Marmorplatte. In Goldbuchstaben waren die Donatoren der Anstalt verewigt, und man erfuhr, daß die Familie His-Iselin 5000 Franken und die Familie Bärtschl 3000 Franken gestiftet hatten. Auf der Platte war noch Platz für künftige Wohltäter.
Es roch nach Apotheke, Staub und Bodenwichse… Ein eigenartiger Geruch, der Studer tagelang verfolgen sollte.
Rechts ein Gang, links ein Gang. Beide Gänge waren an ihren Enden durch massive Holztüren verschlossen. Eine Treppe führte in die höhern Stockwerke des Mittelbaues.
»Ich gehe voraus«, sagte Laduner über die Schulter. Er nahm zwei Stufen auf einmal, und Studer folgte keuchend. Im ersten Stock hatte er Zeit, durch ein Gangfenster einen großen Hof zu überblicken, dessen Rasenflächen von Wegen gleichmäßig zerschnitten wurden. Ein niederes Gebäude kauerte in der Mitte des Hofes, und dahinter stach ein Kamin in den Himmel. Rote Backsteinmauern, die Dächer
Weitere Kostenlose Bücher