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Maulende Rebellen, beleidigte Zicken

Titel: Maulende Rebellen, beleidigte Zicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annegret Noble-Fischer
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Zugegeben, Susis Vater wusste zum Zeitpunkt dieses Gesprächs einiges über Erziehung und die Gehirnentwicklung bei Jugendlichen. Doch erst im letzten Jahr hatte er viel in eine gute Beziehung zu seiner Tochter investiert, nachdem er bis dahin immer nur derjenige war, der ihr Standpauken hielt, wenn sie wieder einmal etwas falsch gemacht hatte. Es war nicht einfach, aber je mehr er über sich selbst und seine Beziehungen lernte, desto mehr wollte Susis Vater eine gute Beziehung zu ihr haben. Da er an dieser Beziehung gearbeitet hat, ist Susi jetzt bereit, ihm zuzuhören, wenn er ihr etwas sagt.

Vom konkreten zum abstrakten Denken
    Nach den Erkenntnissen des schweizer Psychologen Jean Piaget fangen Jugendliche im Alter von 12 bis 14 Jahren an, abstrakt zu denken. 7 Er nennt diese Art des Denkens formal-operatorisch. Jugendliche sind in der Lage, sich von der konkreten Ausgangssituation zu lösen und in Hypothesen oder Möglichkeiten zu denken.Während jüngere Kinder die Welt oft als schwarz oder weiß, richtig oder falsch sehen, können Jugendliche die Grautöne wahrnehmen.Während für jüngere Kinder ein Problem oft nur eine Lösung hat, können sich Jugendliche eine Vielzahl von »Lösungen« vorstellen. Sämtliche in Betracht kommende Erklärungen (auch die - oder vor allem die -, die so weit hergeholt sind, dass sie schon fast aus einem anderen Universum stammen) werden berücksichtigt.
    Wenn Sie Ihrem Zehnjährigen im Herbst sagen konnten: »Sei zu Hause, wenn es dunkel wird«, und sie gegen 18 Uhr mit ihm rechnen konnten, dann wird ein Teenager die zahlreichen Interpretationen des Wortes »dunkel« diskutieren wollen: »Wie dunkel? Wenn die Straßenlaternen angehen? Aber die gehen an, bevor es richtig dunkel wird. Wenn man seine Hand nicht mehr vor Augen sehen kann? Das passiert nie, denn die Straßenlaternen sind ja an. Wenn man die ersten Sterne sehen kann? Aber man kann ja den ganzen Tag über Sterne sehen, man muss nur genau hinschauen …« Wie viele ähnliche Konversationen haben Sie mit Ihrem Teenager schon gehabt? Jede dieser Diskussionen gibt Ihrem
Teenager die Gelegenheit, abstraktes Denken zu üben und das Gehirn in dieser neuen Denkweise zu schulen.
    Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als Ihr Kind zwei oder drei Jahre alt war? Damals gingen Sie durch eine ähnliche Phase. Egal, was Sie sagten, die Antwort Ihres Kindes war fast immer: »Nein.« Ihr Kind schreit, Sie sagen: »Möchtest du dein Stofftier?« - »NEIN.« - »Möchtest du etwas zu essen?« - »NEIN.« - »Etwas zu trinken?« - »NEIN.« - »Möchtest du weiterweinen?« - »NEIN.« Damals lernte das Gehirn des Kleinkindes gerade, dass es unabhängig von Mutter und Vater handeln und Entscheidungen treffen kann. Bis zu diesem Zeitpunkt sah das Kind sich als eins mit der Mutter. Was die Mutter fühlte, fühlte das Kind. Was das Kind brauchte, brauchte die Mutter. Diese neu gefundene eigene Identität musste dann natürlich gebührend erforscht werden - und das Nein, das so klar Unabhängigkeit und Individualität ausdrückt wie kein anderes Wort, zu jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit eingesetzt werden. Damals wurde der ganze Lernprozess wahrscheinlich als süß oder lustig empfunden. Teenager machen einen ähnlichen Lernprozess durch. Sie sehen jede Situation als Gelegenheit, diese neue Fähigkeit ihres Gehirns auszuprobieren. Auf einmal gibt es keine klaren Antworten mehr, sondern nur noch eine Vielzahl an Möglichkeiten, die alle diskutiert werden müssen. Eigentlich ist das doch auch lustig - oder?
    Für Sie als Eltern ist es wichtig, dass Sie das Bedürfnis Ihres Teenagers, ständig und alles zu diskutieren, nicht immer gleich persönlich nehmen. Ihr Kind lernt eine neue Fähigkeit, das hat wenig mit Ihnen und Ihrer Erziehung zu tun, es ist normal - wenn auch nicht unbedingt einfach zu tolerieren.
    Jugendliche fangen auch an, Interesse an abstrakten und theoretischen Fragen zu zeigen. Sie stellen sich die unterschiedlichsten Fragen, die nicht mehr einfach mit Ja oder Nein zu beantworten sind:
    Was ist Liebe? Warum verhungern Kinder in Afrika? Was ist Identität? Wer bin ich, wenn keiner mich sieht? Falls das Haus brennen würde, wen oder was würde ich retten? Was ist Glaube? Warum haben Menschen ein Gewissen? Ist es falsch, Lebensmittel zu stehlen, wenn man nichts zu essen hat?
    Jugendliche wollen und müssen ihre eigenen Antworten auf diese Fragen finden. Dazu müssen sie alle möglichen Variablen überprüfen und

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