Maulende Rebellen, beleidigte Zicken
Festund Gedenktage einmal ohne den verstorbenen Menschen zu durchleben und der Trauer an diesen Tagen Raum zu geben. Doch es gibt so viele Gründe, schnell wieder funktionieren zu wollen. Da sind die Arbeit, die Erwartungen der Familie und der Freunde, die zeitgebundenen Projekte, die Bedürfnisse der Menschen um einen herum. Sechs Monate nach dem Tod einer geliebten Person bekommt man keine Karten mehr
zugeschickt oder Worte der Anteilnahme zu hören. Es wird normalerweise erwartet, dass man seinen Verlust »weggesteckt« hat. Und wenn sich dann doch jemand nach dem persönlichen Befinden erkundigt, sagt man, dass man über den Verlust hinweg ist, denn man hat sich mittlerweile selbst davon überzeugt, dass sechs Monate mehr als genug sind, um zu trauern. In einer Gesellschaft, die wenig Raum zum Trauern lässt, ist es deshalb kein Wunder, dass viele Menschen versuchen, diesen Prozess abzukürzen oder ganz zu vermeiden.
Man kann sich einreden, dass der Verlust gar nicht so schlimm war, dass man jetzt mit dem Trauern fertig sein sollte, dass man keine Zeit hat, dass das Leben einfach weitergehen muss. Damit verdrängt man die Gefühle, stopft sie tief in sich hinein und hofft, dass sie irgendwie verschwinden. Wenn man sich weit genug von seinen Gefühlen abgegrenzt hat und nur auf den Kopf und nicht auf die Seele hört, dann kann man sich oft selbst davon überzeugen, dass man nicht wirklich trauern muss. Oder man kann versuchen, sich von seinen Gefühlen abzulenken. Drogen, Alkohol, Essen, Arbeit, Glücksspiele oder Sport sind beliebte Wege, sich von den unangenehmen Gefühlen abzulenken und sie nicht spüren zu müssen. Menschen werden oft sehr kreativ, um diese Gefühle zu vermeiden. Leider funktioniert keine der beiden Strategien wirklich. Entweder kann man irgendwann die Gefühle nicht mehr unterdrücken oder die Ablenkungsmanöver haben einen zu hohen Preis. Die unterdrückten oder ignorierten Gefühle kommen dann mit voller Kraft zurück ins Bewusstsein. Man spürt sie so klar und deutlich, als ob der Verlust gerade erst passiert sei. So kann es sein, dass ein Alkoholiker, der endlich clean ist, 30 Jahre nach dem Tod eines geliebten Menschen auf einmal weint und trauert, als ob der Mensch gestern gestorben sei. Wenn sich jemand jahrelang durch unermüdliche Arbeit davon abgelenkt hat, dass er ein Kind verloren hat, dann kann es passieren, dass er während des nächsten Urlaubs (auf den er sich nur widerwillig eingelassen hat) auf einmal Gefühle von Wut und Traurigkeit verspürt, die keine wirkliche Ursache zu haben scheinen. Die unverarbeiteten Verluste machen es ihm unmöglich, den Urlaub zu genießen. Ohne sich auf seine Arbeit zu konzentrieren und sich dadurch von seinen Gefühlen ablenken zu können, erlebt man auf einmal Gefühle, die man verloren gehofft hatte.
Mit anderen Worten: Man kann das Trauern aufschieben, aber nicht vollständig vermeiden. Irgendwann wird man sich den Gefühlen stellen müssen. Oder man wird einen hohen Preis dafür bezahlen, sie bis an sein Lebensende zu unterdrücken. In der nächsten Aufgabe werden Sie sich
mit den Verlusten in Ihrem Leben beschäftigen und herausfinden, welche Rolle Trauerarbeit in Ihrem Leben spielt.
Machen Sie eine Liste der Verluste in Ihrem Leben. Fangen Sie mit den größten Verlusten an. Erinnern Sie sich so weit zurück wie möglich. Der Tod von geliebten Menschen ist normalerweise der größte Verlust, danach folgen oft Haustiere und dann Gegenstände. Kinder empfinden Verluste jedoch oft anders. Der Tod eines netten Großonkels, den man nur zu Weihnachten sieht, ist da weniger einschneidend als der Verlust des geliebten Fahrrades. Es gibt keine Vorschriften, welche Verluste Ihnen nahezugehen haben. Folgen Sie einfach Ihren Gefühlen.
Nach der Liste der Verluste machen Sie eine Liste der großen Veränderungen in Ihrem Leben, denn jede Veränderung ist automatisch mit Verlusten verbunden. Auch positive Veränderungen bringen Verluste mit sich. Der Schulabschluss bringt einen Abschied vom vertrauten Tagesablauf mit sich. Die Hochzeit bedeutet das Ende einer gewissen Freiheit. Die Geburt eines Kindes setzt der Zweisamkeit ein Ende. Die Beförderung verändert die Beziehungen zu den Kollegen. Wenn man ignoriert, dass diese - oft positiv empfundenen - Veränderungen auch gleichzeitig mit Abschied und Verlust verbunden sind, dann kann man sich nicht erlauben zu trauern. Wenn man die entsprechenden Gefühle vermeidet, muss man sie eben später
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