Max Weber (German Edition)
‹historisches Individuum› sein, d.h. ein Komplex von Zusammenhängen in der geschichtlichen Wirklichkeit, die wir unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung begrifflich zu einem Ganzen zusammenschließen. Ein solcher historischer Begriff […] muß aus seinen einzelnen, der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden.»
Als «Veranschaulichung» seiner Fragestellung führte Weber ein Dokument des amerikanischen Politikers, Schriftstellers und Naturwissenschaftlers Benjamin Franklin zur (angeblichen) Anleitung junger Kaufleute an, das Weber so las, als ob darin die Ideale des kreditwürdigen Ehrenmannes und der Verpflichtung des Einzelnen gegenüber dem als Selbstzweck vorausgesetzten Interesse an der Vergrößerung seines Kapitals formuliert seien: «daß hier […] eine eigentümliche ‹Ethik› gepredigt wird, deren Verletzung nicht nur als Torheit, sondern als eine Art von Pflichtvergessenheit behandelt wird: dies vor Allem gehört zum Wesen der Sache. Es ist nicht nur ‹Geschäftsklugheit› was da gelehrt wird […] es ist ein Ethos, welches sich äußert, und in eben dieser Qualität interessiert es uns.» Zwar übersah Weber, dass es sich bei den vom ihm herangezogenen Texten Franklins um Satiren handelte, um Ironien eines boshaften Humoristen, und dass es diesem um eine Verspottung des schon zu seiner Zeit verbreiteten Glaubens ging, Reichtum sei eine gottgefällige, moralische Verpflichtung. Dies ändert jedoch nichts an seiner damaligen Einschätzung, dass in diesen Texten eine «ethisch gefärbte Maxime der Lebensführung» artikuliert werde. Er wollte den Begriff «Geist des Kapitalismus» allerdings allein für den «modernen Kapitalismus» gebraucht wissen: «Denn, daß hier nur von diesem westeuropäisch-amerikanischen Kapitalismus die Rede ist, versteht sich angesichts der Fragestellung von selbst.»
Die Einbettung in ein höchstes Ziel machte aus dieser «Ethik» etwas ganz anderes als nur eine Verbrämung rein hedonistischer Motive. «Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen.» Es ist nicht unplausibel, wenn man unterstellt, dass Weber weniger das (vermeintliche) Ideal eines der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika, Benjamin Franklin, vor Augen hatte, sondern sehr viel eher von seinen eigenen Prägungen und Wahrnehmungen ausging und die Vorbilder seines eigenen Großvaters und seiner Onkel vor Augen hatte. Auch dass er ausgerechnet dem Calvinismus eine «innere Verwandtschaft» mit der «modernen kapitalistischen Kultur» nachsagte, hatte gewiss mehr mit der lebenslangen Wahrnehmung seiner Mutter und ihrer beiden Schwestern zu tun als mit einer sonderlich vertrauten Kenntnis der Lehren des französischen Reformators aus Genf.
Wenn wir schon bei seiner Dissertation, seiner Habilitationsschrift, seinen Studien zur Lage der ostelbischen Landarbeiter, ja selbst bei seinen Studien zum Börsengeschehen sehr greifbare Bezüge zu seinen eigenen familienbiographischen Erfahrungen zu erkennen glauben, so können wir das bei seiner berühmtesten Arbeit, der Erforschung der Kulturbedeutung des Protestantismus, noch sehr viel leichter. In einem Familienmilieu, in dem die Pflicht zur rastlosen Arbeit, zur Selbstdisziplinierung und zur Kapitalmehrung oberste Prämisse jedes Handelns war, kann es nicht überraschen, dass der Gedanke der «Berufspflicht» an zentraler Stelle auftaucht: Nach Max Weber war ebendieser Gedanke für die «Sozialethik» der «kapitalistischen Kultur» von konstitutiver Bedeutung. Dabei behauptete er weder, dass alle Kapitalisten und die von ihnen beschäftigten Arbeiter gläubige Protestanten sein müssten, noch, dass der Kapitalismus den Protestantismus als ethische Fundierung benötige: «Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist. Er zwingt dem einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf.»
Den «Gegner» dieses «kapitalistischen Geistes» kennen wir bereits aus den Landarbeiterstudien: den «Traditionalismus». Damit bezeichnete er jenes Verhalten und Denken, wonach der Mensch «von Natur aus» keineswegs immer mehr
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