Max Weber (German Edition)
Realität nach, weiß sich der Liebende in den jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt, den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltages.»
Ungeachtet seiner Ernennung zum 6. April 1919 – einem Tag vor Ausrufung der Räterepublik – konnte Weber seine Lehrtätigkeit nicht unmittelbar aufnehmen. Seine Teilnahme an den Friedensverhandlungen in Versailles führte dazu, dass er nach einem kurzen Abstecher in Berlin erst ab der ersten Juniwoche 1919 ins Isartal zurückkehren konnte, wo er sich, im ersehnten Zusammensein mit Else Jaffé in deren bescheidenem Haus «Vogelnest» in Wolfratshausen im Isartal, auf die Wiederaufnahme seiner Universitätslehre vorbereitete. Die Liste der von Weber in den insgesamt drei Semestern seiner Münchner Zeit angebotenen Lehrveranstaltungen ist nicht sonderlich lang: im restlichen Sommersemester 1919, das vor allem für die zurückkehrenden Kriegsteilnehmer organisiert wurde, die Vorlesung Die allgemeinsten Kategorien der Gesellschaftslehre, die der Neuformulierung der ersten Kapitel jener Texte dienten, die später als Wirtschaft und Gesellschaft veröffentlicht wurden. Für die Vorlesung, für die sich Weber von Stunde zu Stunde vorbereitete, hatten sich 600 Hörer eingeschrieben. Weber präsentierte hier jene dürren Paragraphentexte, die im folgenden Kapitel als seine Allgemeine Soziologie skizziert werden. Im Wintersemester 1919/20 bot Weber eine zweistündige Vorlesung mit dem Titel Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an, die 1923 aus den Vorlesungsmitschriften als Wirtschaftsgeschichte publiziert wurde, sowie eine vierstündige Übung Soziologische Arbeiten und Besprechungen. Auch im Sommersemester 1920 wurden es nicht weniger Studierende. Für die dreistündige Vorlesung Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie) hatten sich 400 Teilnehmer eingeschrieben und ihre Hörergelder bezahlt. Für die einstündige Einführungsvorlesung Sozialismus waren es 600 Hörer, nur der zweistündige Kurs Soziologisches Seminar konnte auf einen kleinen Kreis beschränkt werden.
Es waren keine «normalen» Semester, die Max Weber an der Münchner Universität erlebte, fielen sie doch in eine insgesamt überaus turbulente Periode der bayerischen Geschichte. Dass er in diesen Monaten, die man in jeder Hinsicht – sowohl privat als auch öffentlich – als aufgewühlt bezeichnen kann, hat derart produktiv wissenschaftlich arbeiten können, ist zumindest bewundernswert. Neben seinem häuslichen Schreibtisch in der Schwabinger Seestraße 3c und dem Lesesaal in der Bayerischen Staatsbibliothek diente ihm das Professorenzimmer des Staatswirtschaftlichen Seminars als Arbeitsplatz. Ungeachtet seines festen Vorsatzes, sich vollkommen aus dem politischen Leben herauszuziehen und sich ausschließlich der Arbeit an seinen wissenschaftlichen Vorhaben zu widmen, überschattete eine Vielzahl dramatischer politischer Vorgänge die drei Münchner Semester des Professors Max Weber.
X «Soll heißen». Die Soziologischen Grundbegriffe und ihre Anwendungsfelder
Knapp elf Monate sollten Max Weber für seine späte Liebe, sein politisches Engagement und sein wissenschaftliches Schaffen bleiben. Privat war es für ihn die Zeit jener Erfüllung, auf die er lange gehofft hatte. Politisch war es für ihn die Phase, in der er seine Ambitionen, in die «Speichen des Rades der Geschichte» wirkungsvoll einzugreifen, endgültig aufgeben musste. Was bleibt aber als wissenschaftlicher Ertrag der Münchner Zeit? Auch hier erreichte er keines der Ziele, die er sich selbst gesetzt hatte: Die in Angriff genommene Überarbeitung der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie kam nicht weiter als bis zur Neuformulierung von Vorbemerkung und Einleitung und bis zur Endredaktion der alten Aufsätze über Die protestantische Ethik und der ‹Geist› des Kapitalismus von 1904/05. Und bei der geplanten Endfassung seiner Beiträge für den Grundriss der Sozialökonomik, an denen er seit über zehn Jahren gearbeitet hatte, kam er nur bis Seite 180 der posthumen Ausgabe, die Marianne Weber erst im Jahr 1922 publizieren konnte. Das alles sieht nach Scheitern aus!
Tatsächlich aber wurden diese Texte ein wesentlicher Baustein für jene – posthume – Entwicklung, die Max Weber zu einem der bedeutendsten (deutschen) Sozialwissenschaftler und einem der wirkungsvollsten Denker des 20. Jahrhunderts
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