Maya und der Mammutstein
Hoffnung, zart wie sie noch war, gleich wieder zu zerstören.
Sie faßte einen Entschluß. »Ich möchte keine Geheimnisse mehr hören.«
Er fuhr hoch. »Was?« Es war das erste Mal, daß Maya Widerspruch geübt hatte. Er starrte sie an, als habe sie versucht, ihn zu beißen - und in diesem Moment beging er seinen ersten großen Fehler, jenen Fehler, der all die folgenden Ereignisse nach sich ziehen sollte. In diesem Moment sah er all seine Pläne, seine Visionen, die von Mayas Geburt an sein Leben bestimmt hatte, vor seinem inneren Auge vorbeiziehen - und wurde zornig.
Wie konnte dieses vorlaute Mädchen, das sich für eine Frau hielt, es wagen, ihm zu widersprechen? Wußte es denn nicht, was er alles für es getan hatte? Wer ihr das Leben gerettet hatte - nein, nicht nur einmal, sondern viele, viele Male -, wer es unterrichtet, eingeführt, vorbereitet hatte für die Rolle, die es spielen sollte? Wußte Maya denn nicht, welche Todesängste er in dunklen, schmerzlichen langen Nächten ausgestanden hatte? Wie er sich für sie aufgeopfert hatte, für sie und für das Volk, das sie schon bald so verzweifelt brauchen würde? (Wie werden sie sie brauchen? Wie?) Wußte sie denn überhaupt nicht, was Dankbarkeit war?
Und so überhörte er, während sein Ärger sich zur Wut steigerte, jenes leise Stimmchen in seinem Kopf, das all diese Fragen beantwortete. Nein, das weiß sie nicht, denn du hast es ihr ja nie erzählt. Statt dessen gestattete er sich zu vergessen, was sie wirklich war: ein kaum zur Frau gereiftes Mädchen, ein einsames Kind, doch stark, eigensinnig und launenhaft wie jedes andere Mädchen ihres Alters.
Deshalb sprach er jetzt in schroffem Ton zu ihr, heftig, und Wut schoß aus jedem seiner Worte hervor wie eine helle Flamme.
»Maya. Du wirst mir jetzt zuhören.« Begriff sie denn nicht? Er ignorierte die Verdrossenheit, die in ihrer Erwiderung mit schwang, die Art, wie ihre Lippen sich langsam zu einem eigensinnigen Schmollen schürzten. »Ja sicher, Alter Zauber«, sagte sie. Sie senkte den Blick und weigerte sich, ihn wieder zu heben und den Schamanen anzusehen, während er sprach.
Statt dessen beobachtete sie ihre Finger, wie sie sich wanden und drehten, wie ein kleines Nest von... Schlangen.
Alter Zauber war wütend, gewiß, doch dann verstand er seine Wut; sie erwuchs aus der Furcht. Wenn Maya ihn zurückwies, würde sie damit die Mutter selbst zurückweisen - so zumindest wollte es ihm scheinen, da er seine eigene Mission mit einer weit größeren durcheinandergebracht hatte
-, und das Schicksal des Volkes wäre ungewiß. Er schwieg; dunkel begriff er die Bedeutung dieses Augenblicks. Sie mußte ihn verstehen. (Und Geist... Warum ließ der Gedanke an Geist seine neuerdings erstarkten Finger wieder zittern, Schweiß auf seine Stirn treten?) Geist war gefährlich!
Dieser Gedanke kam ihm ganz spontan. Geist übte einen schlechten Einfluß auf Maya aus, er brachte sie von ihrem Weg ab, zerstörte den dünnen Faden, der das Mädchen an ihn, den Schamanen, und an ihr Schicksal band. Und weil er Geist fürchtete, holte er einmal tief Luft und tat das einzige, was seiner Meinung nach die Dinge ein für allemal ins Lot bringen würde.
Sie mußte verstehen!
Er drehte sich um, griff hinter sich und holte das verhüllte Päckchen hervor. Schweigend löste er die Knoten - wobei er das unbehagliche Gemurmel Alter Beere neben sich ignorierte -, bis die blankpolierte Oberfläche des Mammutsteins schwach in der düsteren Luft schimmerte.
»Hier«, sagte er brüsk, und warf Maya den Stein über die Feuerstelle hinweg zu. »Nimm es.«
Maya fing ihn auf. Obwohl sie sich danach gesehnt hatte, nach draußen zu gehen, Geist aufzusuchen und mit ihm zu reden, veranlaßte sie irgend etwas, nach dem Mammutstein zu greifen. Sie konnte nicht anders.
Und als sie ihn nahm, spürte sie, wie eine kaum wahrnehmb are Vibration durch ihre Handfläche drang und dann ihren Unterarm hinaufkroch. Verdutzt starrte sie den Stein an, der nichts weiter tat, als in ihrer Hand zu liegen. Doch immer noch fühlte sie dieses Beben, als trüge der Stein irgendeine unbekannte Macht in sich und wolle diese geradewegs in ihre Finger gebären.
Ihr wurde bewußt, daß sowohl Alter Zauber als auch Beere sie mit Augen anstierten, die so heiß wie brennende Kohlen waren. Unbewußt schlössen sich ihre Finger um den Stein und drückten ihn an sich. Sie bemerkte nicht, daß sie beim Reden den Stein dicht an ihre Brust, an ihr Herz führte.
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