Maya und der Mammutstein
»Was?« fragte sie in die Wellen der Erwartung hinein, die ihr aus den glühenden Augen der beiden entgegenschlugen. »Was ist das?«
»Spürst du etwas?« wollte Zauber wissen.
Sie schüttelte den Kopf. Was sollte sie denn spüren? Worauf warteten die beiden Alten nur? Wieder wallte eine Woge der Auflehnung in ihrer Brust empor. Immer hatten sie ihre Geheimnisse, diese beiden waren sich in ihrem Alter und ihren Runzeln und ihrem Schweigen so ähnlich geworden, daß man sie kaum auseinanderhalten konnte. Und sie hatte es satt, ja, satt, all ihre Erwartungen und Geheimnisse und unausgesprochenen Rätsel. Sie senkte den Blick und war überrascht festzustellen, daß sie den Stein fest gegen ihre Brüste preßte. »Ich spüre überhaupt nichts.
Nicht mehr als vorher.«
Zauber stieß den angehaltenen Atem in einem langen, langsamen Beben aus. Er sackte in sich zusammen, und einen Moment lang dachte Maya, daß sein Kopf wie ein Totenschädel aussehe, gebleicht, ausdruckslos, die Augen wie leere Höhlen.
»Ah«, sagte er leise. »Aha. Ich verstehe.«
Dann erzählte er es ihr. Er begann mit geflüsterten Worten, die sie kaum hören konnte, obwohl er nur ein paar Fuß von ihr entfernt saß, doch mit der Zeit wurde seine Stimme kräftiger, er verfiel in den Singsang, den sie die Jahre über so gut kennengelernt hatte, und dann am Ende erkannte sie auch, was sie da hörte. Die größte aller Geschichten, die Erinnerung, die er sein Leben lang gehütet hatte, das Geheimnis, das von Schamane zu Schamane weitergereicht worden war, das tiefer und tiefer in die Vergangenheit zurückreichte, zurück in Zeiten, die so uralt waren, daß es Mayas Vorstellungskraft überstieg.
Der Stein fühlte sich warm an. Ohne nachzudenken, hob sie ihn an die Wange und rieb ihn sanft an ihrer Haut.
Nun gemahnte Zaubers Stimme sie an die Baumstammtrommeln, die das Volk manchmal benutzte, in Zeiten des Triumphes oder der Verzweiflung. Die Worte rollten ihm von der Zunge, jedes einzelne klar und deutlich.
»... und du, Maya, der Stein gehört dir«, sagte er. »Nur du kannst ihn für das Volk einsetzen, nur du. Du bist die, auf die wir gewartet haben.«
Ihre Kinnlade fiel herunter, und Maya starrte den Schamanen erschrocken an. Das war kein Geheimnis, das war eine Offenbarung. Das änderte alles. Erklärte alles.
Natürlich bist du anders ... DM bist die, auf die man gewartet hat, du bist die Göttin, du bist ...
Sie brach in Tränen aus.
»Eines Tages«, fuhr Alter Zauber erbarmungslos fort und ignorierte ihr wildes Schluchzen (Sie mußte verstehen!), »wirst du meinen Platz einnehmen, Maya. Nicht Geist, sondern du. Noch ist es ein Geheimnis, und Geist darf es nicht erfahren. Die Zeit ist noch nicht reif. Hast du mich verstanden ?«
Und obwohl sie ihn nicht verstand, nein, nicht im geringsten, nickte sie, denn sie hatte ihm ihr Leben lang beigepflichtet, und er war ihr Mann, und er wollte es so...
»Ja«, schniefte sie. »Ja, Zauber, ich verstehe.«
Doch das tat sie nicht. Und all das, was später aus dieser Lüge entstehen sollte, wurde in diesem Moment geboren, aus Zaubers schrecklichem Fehler.
Flußlager des Bisonvolkes
Nach der Opferung von Frühlingsblüte hatte Gebrochene Faust sich für die Dauer einer Nacht und eines Tages in sein Zelt zurückgezogen. Als er wieder hinaustrat, verkündete er, daß die Zeichen günstig ständen. Der Geist der Lüfte war zufrieden mit dem Opfer. Ganz wie Gebrochene Faust, denn er hatte sehr wohl die Qual von Schwarzem Karibu, seinem Feind, bemerkt.
Wenn Schwarzes Karibu und Ratte und die anderen jetzt auf die Jagd gingen, würde die Beute reich sein.
Also sprach Gebrochene Faust in den blauen Morgen, und die Männer trafen die Vorbereitungen für die Jagd. Karibu bewegte sich wie im Traum. Er weigerte sich, den Schamanen anzusehen, und Ratte versuchte, ihn aufzuheitern.
»Heija, Karibu, wir werden ein großes Töten veranstalten! Viele Bisons, vielleicht, viel Fleisch!«
Doch Karibu, der dort stand und über die schiefergraue Wasseroberfläche des Flusses blickte, so weit weg, wie er nur konnte, von der immer noch schwelenden Grube, wo er das Herz seiner geliebten Schwester verzehrt hatte, wollte sich nicht aufheitern lassen. Er grunzte nur und wandte sich ab.
»Geht ohne mich«, sagte er.
»Nein. Du mußt mitkommen. Du bist unser stärkster Arm, unser größter Jäger. Wie können wir jagen, wenn du uns nicht führst?«
Karibu stand so reglos wie sein Namensgeber, prüfte die Luft der
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