Maya und der Mammutstein
irgend jemand ihr diese Gegenstände wegnähme, würde sie ihn dafür hassen. Sie hatte das Altem Zauber erzählt, und er hatte genickt.
»Ja, Maya, genau so, und noch schlimmer. Viel schlimmer. Du mußt dich vor Geist sehr in acht nehmen. Und du mußt das Geheimnis wahren. Es ist dein Geheimnis, nicht seins!« Das Geheimnis!
Das Geheimnis hatte sie gelähmt. Es hockte wie ein großer schwarzer Felsklotz im rauschenden Strom ihrer Gedanken, undurchdringlich, unbeweglich, so daß ihr Geist in gewaltiger, schäumender Konfusion um ihn herum spritzte und wirbelte - und, wie ein Felsbrocken, war es unverdaulich. Sie konnte es nicht herunterschlucken. Sie kehrte immer wieder zu ihm zurück, kratzte an ihm herum, prüfte und kostete es, versuchte, den Sinn zu ergründen, den es verkörperte.
Ich bin die, auf die wir gewartet haben. Ich bin Teil der Großen Mutter.
Ich bin die Retterin des Volkes. (Wodurch, bitte sag's mir!) Ich werde Schamanin sein. Ich werde -
Sie konnte es nicht. Sie konnte einfach die Vorstellung nicht ertragen, daß sie, die zurückgewiesene Außenseiterin, ein kleines, einsames Mädchen, den Höhepunkt einer großen Legende verkörpern sollte, die ihre Wurzeln im Anbeginn der Welt hatte.
Und dann war da der Mammutstein. Jetzt verstand sie, warum Alter Zauber immer fragte, ob sie irgend etwas spürte, wenn sie das glatte, warme Elfenbein berührte. Doch was sollte sie ihm zur Antwort geben?
Ja, Zauber, ich verspüre großartige Dinge, ich fühle, wie die Macht in mir wächst, die Mutter selbst.
Aber das stimmte nicht. Sie spürte ein bißchen Wärme, eine leise Vibration, schnell empfunden und ebenso schnell vergangen. Der Stein war hübsch. Sie hielt ihn gerne fest. Aber das war auch alles. Der Stein zeigte ihr nicht, daß sie die war, auf die alle gewartet hatten, nicht die geringste Andeutung einer gewaltigen Macht, nichts, um ihr durch diese unglaubliche Offenbarung zu helfen.
Es war nichts als ein Stein, genau wie der Felsklotz, der ihren Geist blockierte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es mochte, daß sich der Stein nun wieder eingeschnürt unter ihrer eigenen Bettstatt befand, denn Alter Zauber hatte ihn ihr gegeben.
»Er gehört jetzt dir, Maya. Du mußt ihn behalten und bewahren, bis die Zeit kommt.«
Die Zeit wofür?
Sie wußte die Antwort nicht. Das einzige, was sie wußte, war, daß an jenem Tag der Enthüllung eine der größten Hoffnungen ihres Lebens zerstört worden war. Insgeheim hatte sie immer geglaubt, daß die Möglichkeit bestünde, das Volk werde irgendwie seine Einstellung ihr gegenüber ändern, am Ende doch in seiner Ablehnung nachlassen und sie in die Gemeinschaft aufnehmen. Doch jetzt konnte es nichts davon mehr geben! Alter Zauber - und Beere, die unbehaglich an seiner Seite genickt hatte - hatte sie nur zu gut davon überzeugt. Sie war die, auf die wir gewartet haben, und nichts, nicht in und nicht außerhalb dieser Welt, konnte diese schreckliche Bestimmung von ihr nehmen.
»Ja«, hatte sie gesagt und den Blick gehoben, und Geists Lächeln hatte sie sich ein bißchen weniger einsam fühlen lassen, ein bißchen wärmer, »du kannst mit mir Spazierengehen.«
Und Geist hatte genickt und gelächelt und geschwiegen. Er war zufrieden.
Er konnte warten.
Er wiederholte seine geheime Zauberformel. Der alte Narr kann nicht ewig leben.
Zur gegebenen Zeit wird sie mein sein. Ihre Geheimnisse wer den die meinen sein. Sie wird mir gehören. Und dann werd e ich nicht mehr lächeln müssen.
Seine Zunge schnellte einmal vor und wieder in seine Mundhöhle zurück wie die einer Schlange, doch Maya bemerkte es nicht. Er sagte nichts, ergriff jedoch ihre Hand, und so schritten sie gemeinsam dahin.
Jetzt, drei Tage nach dem schweigsamen Marsch, während dessen Maya gelegentlich verstohlen zu Geist aufgeschaut hatte, ja sogar ein paarmal den Versuch gemacht hatte, zu sprechen, und er hatte nur gelächelt, gelächelt, saßen sie zusammen auf einem Baumstumpf am Ufer des Rauchsees, lauschten dem Gurgeln des kochenden Schlamms, das den diesigen Nachmittag noch geheimnisvoller scheinen ließ. Weit draußen auf dem See stieß ein Eistaucher seinen einsamen Schrei aus.
Was soll ich tun l fragte sich Maya. Er ist so freundlich. Denn Geist hatte sie überhaupt nicht gedrängt, hatte sie nicht gefragt, warum sie nicht mit ihm reden durfte, warum sie ihre aufkeimende Freundschaft ersticken sollte. Zuerst hatte sie ihm aus dem Weg zu gehen versucht, doch das schien
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