Maya und der Mammutstein
Kurz darauf war der Kampf vorüber, und die Jungen rannten lachend in Richtung der Quellen, die den See speisten.
Maya hatte keine Erinnerung an das erste Lager, das das Volk hier aufgeschlagen hatte, auch nicht an die Frau, deren Tod im Kindbett ihr das Leben geschenkt hatte. Ihre Erinnerungen umfaßten lediglich die Zeit, in der das Lager, wie es jetzt war, bestanden hatte - Zeltbehausungen, aus gebogenem Holz, Karibuknochen und rauhen Fellen errichtet, halb in den harten, steinigen Boden des Felsvorsprungs eingegraben, durch die rie sige überhängende Klippe hoch oben vor Wind und Regen und Schnee geschützt.
Ihre Welt hatte festumrissene Grenzen: der Felssims mit dem Lager, der Erste See dahinter, die Grasebene hinter dem kleinen See und ein kleiner Teil der Wälder, die sich jenseits davon erstreckten. Sie verstand nicht, warum ihre Mutter sie so sorgsam bewachte; andere kleine Mädchen hatten die Wälder durchstreift, waren sogar bis zu Zweitem See und den rauchverhangenen Orten dahinter gekommen. Die Jungen durften selbstverständlich fast überall hin, wo es ihnen gefiel, obwohl selbst sie sich von den Löwenhöhlen am hinteren Ende des Tals fernhielten, wo ein Rudel der großen Raubtiere lebte, wenn es nicht in der sanft gewellten Tundra jagte.
Maya fieberte darauf, all das kennenzulernen. Ihre unerschöpfliche Neugier trieb sie wie mit Peitschenhieben an, sie wollte sehen, riechen, schmecken und fühlen und alles über die Welt wissen. Sie war verletzt und erzürnt ob der Beschränkungen, die Blüte ihr auferlegt hatte, denn ihre Mutter erklärte ihr nie die Gründe für diese. Manchmal fragte sich Maya, ob es mit ihrer Eigenart zu tun hatte, denn sie wußte wohl, daß sie anders als die anderen Kinder war. Am Anfang hatte die ses Anderssein ihr weh getan - die Art, wie die Kinder sich über ihre Augen lustig gemacht hatten, wie sei sie aus dem Weg schubsten. Steine nach ihr warfen. Doch diese Zeiten waren längst vorbei, und als sie größer geworden war, hatte man sie schließlich als Teil des ganzen Stammes akzeptiert, obgleich sie selbst jetzt noch manchmal sah, wie der eine oder andere Erwachsene hinter ihrem Rücken ein seltsames Zeichen machte.
Als sie Alten Zauber über diese Dinge befragt hatte, war sein altes, zerfurchtes Ge sicht zu einer harten, drohenden Maske erstarrt. »Kümmere dich nicht um sie«, hatte er ihr gesagt. Dann hatte er sie gefragt: »Wer hat Zeichen hinter deinem Rücken gemacht?«
Sie hatte ihm die Namen genannt - Blatt, Speer und noch ein paar andere -
, und der alte Schamane hatte gezwinkert und genickt. Maya hatte keine Ahnung, was dann vor sich gegangen war, aber danach hatten Blatt und sogar Speer sie vollkommen ignoriert, hatten sie scheinbar überhaupt nicht mehr gesehen.
Sie waren allerdings die Ausnahme. Fast alle anderen behandelten sie als das, was sie war - ein kleines Mädchen aus dem Volk. Vielleicht ein bißchen seltsam, aber schließlich waren ja alle Kinder ein bißchen seltsam, nicht wahr?
Über ihren Köpfen hing der Himmel grau und kalt, wie gewöhnlich. Von irgendwo über der Klippenspitze drang ein langgezogener, dröhnender Ton hinunter. Das Donnern des Eis walls im Norden war so allgegenwärtig, daß man es schon fast nicht mehr bemerkte. Maya nahm kaum Notiz davon. Die Aktivitäten rund um die Feuerstellen der Männer interessierten sie viel mehr; drei der Feuerstellen lagen vor einem langen, niedrigen Zelt, das wie ihr eigenes zur Hälfte in die Erde gegra ben war.
Sie erblickte ihre Väter, Haut und Stein, die bei Speer standen; sie waren wie die meisten gesunden Männer Jäger. Auch Geist befand sich bei ihnen, wie sie fasziniert feststellte; er war fast genauso wie die anderen bekleidet, mit warmen Fellen und geschnürten Beinlingen, obwohl er den geschnitzten Holzstab mit sich trug, der ein Zeichen seiner Würde war. Er sprach zu den anderen, und obgleich sie seine Worte nicht verstehen konnte, ließen die abgehackten, barschen Gesten, die Geist mit seinem Stab vollführte, ahnen, daß er sich über irgend etwas erregte.
Bald schon würden die Männer auf die Jagd gehen. Unzweifelhaft drehte sich auch diese Unterhaltung um dieses Thema, denn keine Jagd konnte ohne den Segen der Geister abgehalten werden. Maya war ein bißchen erstaunt darüber, daß Geist anstelle von Altem Zauber dort stand. Der Erfolg der Jäger wa r von höchster Bedeutung für das Überleben des Volkes, so daß ein solch entscheidendes Ereignis bisher immer in die
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