Maya und der Mammutstein
Benehmen ihrer Tochter verantwortlich - der Schamane behandelte Maya anders als alle anderen, obwohl er nicht mit der Sprache herausrücken wollte, warum er sich so verhielt. Schon war Maya daran gewöhnt - nicht nur weit entfernt von dem angemessenen Benehmen eines Mädchens, sondern auch von dem eines jeden Kindes -, im Geisterhaus aus und ein zu gehen, als gehöre es ihr. Blüte vermochte allerdings nichts dagegen zu unternehmen, außer daß sie ihr Bestes gab, Maya das beizubringen, was sie als Frau des Volkes 72
würde wissen müssen.
»Kleine Mädchen«, flüsterte sie Maya ins Ohr, »spielen nicht mit kleinen Jungen. Du wirst das auch noch lernen. Du mußt deinen eigenen Beschäftigungen nachgehen. Willst du heute nicht mit mir gehen?«
Maya ließ sich zurückfallen, die Lippen zu einem nachdenklichen Schmollen geschürzt. »Ich weiß nicht«, erklärte sie schließlich. »Werden wir wieder mit Stöcken im Dreck herumstochern?«
Blüte lächelte. Die Arbeit des Ausgrabens von Wurzeln aus dem weichen, sumpfigen Boden am Ufer des Flusses oder des Sees war eine schwere, schweißtreibende Mühsal, die nur Frauen tun konnten. Sie selbst wurde der Anstrengung auch schnell müde, aber die Arbeit mußte getan werden.
Und die Männer taten sie selbstverständlich nicht. Heute jedoch konnte sie der Kleinen etwas Besseres bieten.
»Nein«, eröffnete sie ihr. »Heute gehen wir alle mit Alter Beere zum Rauchsee. Keine Stochere! mit dem Stock, das verspreche ich dir.«
Mayas merkwürdig gefärbte Augen weiteten sich. »Zum Rauchensee?«
Schon oft hatte sie von diesem Wunder reden hören, hatte es jedoch nie mit eigenen Augen gesehen. Den Anweisungen von Altem Zauber gehorchend, erlaubte man der kleinen Maya nie, sich weit vom Lager zu entfernen, obwohl die kleinen Jungen das, sehr zu Mayas Mißfallen, oft taten. Die Aussicht, endlich doch noch den geheimnisvollen See erblicken zu dürfen, ließ sie alle anderen Ablenkungen vergessen. »Gehen wir!«
verkündete sie und versuchte, sich aus dem Griff ihrer Mutter freizumachen.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst stillhalten!« schalt Blüte und hielt sie fest. »Willst du, daß Alte Beere glaubt, ich wüßte nicht, mich richtig um dich zu kümmern und dich richtig zu kleiden?« fragte sie und fügte eine Drohung hinzu, die sie insgeheim für nicht gänzlich aus der Luft gegriffen hielt. »Wenn sie das glauben würde, könnte sie dich mir wegnehmen.«
Die Drohung zeigte auf der Stelle Wirkung. Maya wirbelte herum und preßte ihre kleine runde Nase gegen Blutes Kinn. Sie schlang die Ärmchen um den Nacken ihrer Mutter und sagte ganz ernst: »Ich würde nicht gehen. Ich lasse dich nie allein, Mama. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich mache mir keine Sorgen«, erwiderte Blüte. »Und du, halt jetzt endlich stilll«
Gehorsam ließ sich Maya schließlich nieder und wartete geduldig, bis ihr Feilumhang und ihre Beinlinge richtig festgeschnürt waren.
»In Ordnung, nun bist du fertig«, verkündete Blüte schließlich und versetzte Maya einen gutmütigen Klaps. »Du bleibst immer bei mir - halt meine Hand fest und laß sie ja nicht los. Um den Rauchensee herum wohnen viele merkwürdige Geister. Möglicherwe ise finden sie ein kleines Mädchen appetitlich.«
Diese Warnung, die gewöhnlich ausreichte, um selbst dem wildesten Jungen eine Heidenangst einzujagen, kümmerte Maya nicht im geringsten. »Ich habe keine Angst vor Geistern!« erklärte sie. »Die Geister sind meine Freunde!«
Blüte tat so, als hätte sie diese Worte überhört, doch im stillen erfüllte sie Furcht. Die Geister, selbst jene, die dem Volk wohlgesonnen waren, waren launenhaft in ihrer Güte. Der Geist des Windes, im Hochsommer beinahe mild, wurde mit Einbruch des Winters scharf und brutal. Andere Geister waren gar noch unberechenbarer, und manche Geister, furchteinflö ßend in ihrer Macht, waren durch und durch böse. Ihre siebenjährige Tochter mit den seltsamen Augen solche anmaßenden Behauptungen aufstellen zu hören ängstigte Blüte zutiefst.
Durch ihren engen und fast ständigen Umgang mit dem Schamanen wurde Maya zu solch frevlerischem Denken verleitet. Warum der alte Mann ein solch starkes Interesse an dem kleinen Mädchen hatte, konnte Blüte nicht erahnen - aber er kümmerte sich sehr um Maya, und das, was er sie lehrte, schien nicht nur unziemlich, sondern auch überaus beunruhigend zu sein.
Maya sprach nicht viel darüber, wie sie ihre Zeit mit Altem Zauber verbrachte - insbesondere
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