Maya und der Mammutstein
sie schon einmal gerochen hatte, allerdings nur ganz schwach und als der Wind richtig gestanden hatte.
Nun schlug ihr der Gestank ins Gesicht, durchdringend, schwer und unheilverkündend. Jenes eine Mal, an das sie sich erinnerte, hatte sie ein verlassenes Vogelnest in den Felsen gefunden, in denen zwei winzige, zerbrochene Eier gelegen hatten. Diese Eier hatten ein wenig wie das hier gerochen, aber nicht einmal ansatzweise so stark.
»Puh«, sagte sie zu Knospe. »Wie das stinkt. Was ist das?«
»Wirst du schon sehen«, ließ Knospe sie geheimnisvoll wis sen.
»Komm schon, sag's mir!«
Doch Knospe schüttelte nur den Kopf.
Plötzlich dann war der Wald zu Ende. In dem einen Augenblick stapften sie noch auf den ausgetretenen Pfad entlang, über sich das Dach der Baumriesen mit ihrer rauhen Rinde, und im nächsten traf schon blendendes Tageslicht auf ihre Augen.
Kurz hinter dem Waldrand fiel das Gelände steil ab, vielleicht zehn Fuß tief hinab zum Ufer eines Sees, der weitaus größer war als der Erste See.
»Der Zweite See«, flüsterte Maya. Weiter weg zu ihrer Linken verbreiterte sich der Fluß, um sich in dem größeren Gewässer zu verlieren. Ein scharfer Wind kräuselte die silbrige Wasseroberfläche, die wie Quecksilber unter dem grauweißen Himmel schimmerte. Maya konnte die gesamte Wasserfläche überblicken, und sie entschied, daß der See wie eine Träne geformt sei. Ein schmaler Kieselstrand erstreckte sich auf ihrer Seite des Wassers, nicht mehr als fünf oder sechs Fuß breit, und Alte Beere führt sie entschlossenen Schrittes auf diesen natürlichen Weg hinunter. Die Frauenschar hielt hier nicht inne, obwohl Maya sich brennend gewünscht hätte, eine Rast einzulegen und die Gegend zu erkunden. Nichtsdestotrotz beschleunigte sie ihre Schritte wieder, da sie sich Buschs stechenden Blicken in ihrem Rücken wohl bewußt war; nur kurz verlangsamte sie ihr Tempo, um ein neues Wunder anzustarren.
Eine Weile wußte sie nicht, was es war, das ihre Aufmerksamkeit fesselte, es sah aus wie kleine schwarze Flecken in der Seemitte, die wie Treibholzstückchen auf und ab tanzten. Doch die Punkte waren keine Holzstücke, es waren schwimmende Vögel, und als sie die Stimmen und Schritte der vorüberziehenden Frauen vernahmen, stoben sie in einem plötzlichen Sprühregen von Wasser und Flügeln auf, und die Luft war erfüllt von ihren schrillen Schreien. Das waren ja Hunderte!
»Ohhh«, keuchte Maya.
Aus dem Schatz ihres überlegenen Wissens schöpfend, versetzte Knospe hochnäsig: »Es sind doch nur Enten, Maya.«
»Sie sind so schön!«
Die praktischer veranlagte Knospe sagte: »Zumindest schmecken sie gut.«
Gelegentlich gelang es den Frauen, eins der scheuen Tiere in einer Schlinge zu fangen, und wenn dem so war, wurde ein Festmahl daraus zubereitet. Enten, die reichlich von dem Fett besaßen, das das Volk so dringend brauchte, wurden zu den schmackhaftesten Nahrungsmitteln im Grünen Tal gezählt. Mayas Mutter, Blüte, stellte sich indes nicht sonderlich geschickt an beim Fangen dieser Vögel, so daß Maya sie nur wenige Male hatte kosten können. Der Mund wurde ihr wäßrig bei der Erinnerung an den Wohlgeschmack, während sie die plumpen und ungelenken Vögel beobachtete, die sich in die personifizierte Anmut verwandelten, sobald sie sich in die Lüfte erhoben.
Schließlich erreichte der Zug den Punkt, wo das Wasser über einen natürlichen Steindamm wieder aus dem See floß. Wie immer ging Alte Beere vor, doch diesmal blieb sie stehen und rief nach hinten: »Seid jetzt vorsichtig. Paßt auf, wohin ihr die Füße setzt.«
Gehorsam wandte Maya ihre Aufmerksamkeit dem Boden zu, der naß und matschig war. Nun folgten sie wieder dem Flußlauf selbst, denn die Wälder an seinen Ufern waren undurchdringlich geworden. Beim Gehen rümpfte Maya fortgesetzt die Nase. Der widerliche Gestank war fast körperlich greifbar, dick und schwer hing er in der Luft. Sie fragte sich, was das wohl sein mochte.
Und dann entdeckte sie plö tzlich mehrere hundert Stocklängen weiter flußabwärts ein letztes Wunder. Ein langgezogener, seufzender Knall tönte durch den Morgen, und dann brach aus dem Boden selbst eine hohe, gekräuselte Rauchfahne empor!
Die Löwin war satt und wollte eigentlich nur mit ihren beiden halbwüchsigen Jungen auf den Felsen liegen, die Wärme aufsaugen, die der dunkle Stein gespeichert hatte. Doch dann drehte sich der Wind mit einemmal; sie regte sich unbehaglich, erhob sich halb, ließ sich
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