Maya und der Mammutstein
triumphierend über den Baumstamm hinweg zu Knospe zurück.
»Hast du das gesehen?« rief sie. »Du versuchst es doch auch, oder?«
Knospe zog leicht die Brauen zusammen. »Wir werden Ärger bekommen«, gab sie zu bedenken.
»Nein, werden wir nicht. Wir gehen hier auch nur weiter bis zum Ende des Baumes«, widersprach Maya. »Komm schon, du kleiner Angsthase.«
Diese Beleidigung konnte Knospe nicht auf sich sitzen lassen. Sie seufzte, um dann vorsichtig auf den Baumstamm zu steigen. Sie war kleiner als Maya, aber die geborene Akrobatin, und legte den Weg über den Baumstamm mit Leichtigkeit zurück. Einmal drüben, funkelten ihre schwarzen Äuglein vor Vergnügen. »Siehst du!« erklärte sie. »Ich bin doch kein Angsthase!«
Maya nickte anerkennend. Es war einfach, Knospe zu irgendwelchen Dingen zu überreden, auch zu Dingen, die ihre Schwe ster eigentlich gar nicht tun wollte. Auf diese Art und Weise handelten sich beide Mädchen eine Menge Ärger mit den älteren Frauen ein.
Jetzt setzten sie sich wieder, und ließen ihre kurzen Beinchen von dem dicken Baumstamm baumeln. Nur ein klein wenig weiter ragten die aus der Erde gerissenen Wurzeln des Baumes wie eine Wand in die Höhe, und das Laub junger, nachwachsender Bäume bildete ein Dach darüber.
Nach einem Moment krabbelte Maya auf die Stelle zu und erklärte sie zu ihrer Höhle. Knospe sah erst einmal mißtrauisch zu, folgte ihrer Schwester dann aber erneut. Sofort waren sie in ein kindliches Spiel vertieft, in dem sie, mittlerweile erwachsen, die Rollen von Vater und Mutter übernahmen; ihre Phantasie entzündete sich an den Geheimnissen des Erwachsenseins. So gebannt waren sie von ihrem Spiel, als sie zusammen tuschelten und kicherten, daß keines der beiden Mädchen das leise, schroffe Keuchen hörte, das aus den Tiefen des Waldes drang - und selbst wenn sie es gehört hätten, hätten sie es nicht zu deuten gewußt.
Keins der beiden Mädchen hatte je zuvor einen jagenden Löwen gesehen oder gehört.
Mutter Löwe bot einen furchterregenden Anblick. Sie maß dreieinhalb Fuß vom Boden bis zu ihrem mit schweren Muskelpaketen bepackten Rist und wog an die sechshundert Pfund. Ihr rell hatte die Farbe von Honig und war wesentlich länger und dichter als das ihrer Nachkommen in einer fernen Zeit, doch
das, was sie am meisten von diesen unterschied, ragte aus ihren Kiefern heraus: zwei lange, gebogene Reißzähne, weiß und glänzend und nadelspitz.
Als sie nun über die Schulter zurückspähte und gähnte, blitzten die Zähne auf. Ihre beiden halbwüchsigen Jungen, deren Reißzähne gerade eben zu wachsen begannen, tollten auf einer kleinen, sonnendurchfluteten Lichtung ein Stück hinter ihr herum. Sie hatten es aufgegeben, am Kadaver des Hasen herumzunagen, und waren ihr gefolgt, und Mutter Löwes Instinkt hatte ihr keinen Grund gegeben, sie wegzuscheuchen. Die fremdartigen Gerüche, die sie gewittert hatte, waren beunruhigend, aber doch nicht so sehr, ihr Angst einzujagen.
Ohnehin gab es nur sehr wenig, was Mutter Löwe fürchtete. Sie stand in der Rangordnung der Tiere in dieser Region unangefochten an der Spitze.
Es gab nichts und niemanden, der ihre Überlegenheit ernsthaft herausforderte, sie machte Jagd auf das riesige Mammut, das Bison und auf das schmackhafteste von allen, das zartfleischige Karibu. Sie konnte natürlich getötet werden - eine rasende Mammutmutter, die ihre Familie verteidigte, mochte einen glücklichen Treffer mit ihren prächtigen Stoßzähnen landen und den Rest mit ihren stampfenden Füßen erledigen -
, doch dazu müßte sie wirklich schon großes Glück haben.
Es war also zum größten Teil Neugier, was Mutter Löwe zu der Gruppe von Frauen hinzog, die am Ufer des Rauchsees plapperten. Sie hatte den schmalen Fluß, in dem das Wasser wieder aus dem See abfloß, mit einem einzigen mühelosen Sprung überwunden. Ihre Jungen hatten diesen Sprung nur mit Anstrengung geschafft. Eins war sogar in den Fluß zurückgefallen, um kurz darauf fauchend, spuckend und sich schüttelnd wieder an Land zu klettern, erbost über das unfreiwillige Bad.
Mit einem letzten Blick auf die beiden Löwenjungen erhob sich die Mutter und schlich näher an den Ursprung der unbekannten Duftmarke heran. Als Mutter Löwe sich vorwärtsbewegte, erstarben plötzlich alle Geräusche in ihrer Nähe, um sie herum wurde alles totenstill. Winzige Tiere huschten in ihre Löcher; Vögel klammerten sich plötzlich an sichere Äste hoch über der Erde und
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