Maya und der Mammutstein
musterten die vorbeigehende Mutter Löwe argwöhnisch aus glänzenden runden Augen. Mutter Löwe war an diese Stille gewöhnt; sie war der Tribut, den der Wald ihrer Machtstellung zollte. Sie und all ihre Artgenossen waren ihr Leben lang in dieser ehrfürchtigen Stille gewandelt.
Ihre Jungen sprangen hinter ihr her, spielerisch mit den Tat zen nacheinander schlagend.
Maya blickte plötzlich ängstlich auf, obwohl sie keine Ahnung hatte, was diese Angst geweckt hatte. »Knospe. Hast du etwas gehört?«
Knospe spähte unbehaglich um sich. »Nein«, erwiderte sie, und ihre Stimme klang unnatürlich laut, »habe ich nicht.« Sie schwieg, um dann hinzuzusetzen: »Eigentlich höre ich überhaupt nichts.«
Und sie hatte recht. Der Wald um sie herum war in Totenstille versunken.
In der Ferne konnten sie die Stimmen der Frauen hören, dünn und hoch, doch die Geräusche, die sie unbewußt die ganze Zeit um sich herum wahrgenommen hatten - Vögel, kleine Tiere, sogar Insekten -, waren verstummt.
Maya fühlte ihr Herz schneller schlagen. Schließlich stand sie mit äußerster Vorsicht auf und blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Ich glaube«, wisperte sie und scheute davor, die unheilvolle Stille zu durchbrechen, »wir gehen jetzt besser zurück.«
Auch Knospe rappelte sich auf ihre kleinen Füße, die Augen wachsam zusammengekniffen. Sie sprach kein einziges Wort, kletterte auf den Baumstamm und machte sich auf den Weg zurück über die Senke. Und dann blieb sie stehen, entsetzensstarr.
Zwei große, glitzernde grüne Augen beobachteten sie mit ruhigem Raubtierblick vom anderen Ende des Stammes.
Mutter Löwe sperrte das große Maul auf und stieß ein heiseres Knurren aus.
Alter Zauber starrte unter gesenkten Lidern hervor auf die kleine Flamme, die in der Feuerstelle in der Mitte des Geisterhauses flackerte. Es war ziemlich warm; er war in eine Art Dämmerzustand gefallen, und irgend etwas hatte ihn wieder halb aufgeweckt.
Daran hatte er sich mittlerweile gewöhnt. In letzter Zeit fand er mehr und mehr Gefallen daran, am Feuer zu sitzen, in alte Erinnerungen zu versinken und sich selbst Lieder vorzusummen. Er wußte, daß er alt war, sehr alt; seine Knochen sagten ihm das jeden Morgen, wenn er erwachte.
In anderen Zeiten würde er vermutlich seine Würde bereits an Geist weitergeben - aber dies waren nun einmal keine anderen Zeiten. Die Bürde des Großen Geheimnisses lastete schwer auf ihm. Maya war kaum sieben Jahre alt, hatte noch einen langen Weg zurückzulegen, bis sie zur Frau wurde. Irgendwie mußte er durchhalten - denn obwohl er sich da nicht absolut sicher war, glaubte er doch, daß das kleine Mädchen seine volle Macht nicht ausüben konnte, bevor die ersten Monatsblutungen eingesetzt hatten. Das dauerte noch Jahre - und Geist wurde zu einem immer größeren Problem. Nun, da er sich der Blüte seiner Manneskraft näherte.
In der Hoffnung, den Jüngeren zu beschwichtigen, hatte Alter Zauber mehr und mehr von seinen Pflichten an ihn abgetreten. So sollte Geist an diesem Tag zum erstenmal die Geister der Jagd beschwören. Alter Zauber konnte die Stimme des jün geren Schamanen in der Ferne hören, der laut und von sich selbst überzeugt sprach, während er sich mit Speer und den anderen Führern der Jagd beriet.
Alter Zauber stieß einen inständigen Seufzer aus. Er hoffte, daß ihm genug Zeit bleiben würde. Das Geheimnis sprach von vielen Dingen, und das meiste davon hatte er Geist nicht erzählt. Die Erfahrung seiner zahlreichen Jahre warnte ihn - Geist war immer noch nicht soweit, die ganze Macht des Geheimnisses oder seine eigene Rolle darin zu verstehen. Tatsächlich hatte Alter Zauber Angst, daß man Geist, wenn er wirklich begriff, welche Aufgabe ihm zugedacht war, überhaupt nicht mehr würde vertrauen können. Die Sicherheit der kleinen Maya - er lächelte vor sich hin, als seine Lippen ihren Namen formten, der so anders war als die Namen der anderen des Volkes -, ihre Sicherheit war das höchste Gebot.
Wenn er nur weiterhin in der Lage sein würde, das Geschick des Volkes zu lenken. Wenn er lange genug leben würde, um zu tun, was getan werden mußte. Er wollte lieber nicht daran denken, was geschehen würde, wenn dem nicht so wäre. Der Gedanke war zu schrecklich, nicht nur für die kleine Maya, sondern auch für das Überleben des ganzen Volkes.
Diese Bürde. Diese grauenvolle Bürde.
Allmählich begann das Gefühl drohender Gefahr, das ihn geweckt hatte, wieder zu schwinden.
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