Maya und der Mammutstein
Ihre Nase witterte den Geruch der Angst, der die fremden Wesen zur Jagdbeute machte, doch sie hatte heute schon gespeist und war müde.
Wenige Augenblicke später aber war ihre Trägheit wie weggeblasen. In rascher Folge vernahm sie das verwirrte Klagen ihrer Jungen und, Bruchteile von Sekunden später, das erstaunte Schmerzgeheule des jungen Löwen, den Maya mit ihrem Stock gestreift hatte.
Die Augen der Löwin verengten sich zu schmalen Schlitzen. Mächtige Muskelpakete schwollen in ihren Hinterbeinen. Ein einziger Sprung brachte sie über die ganze Länge des Grabens hinweg und ein gutes Stückchen ins dahinterliegende Unterholz.
Ihr gutturales Brüllen erfüllte den Wald, als sie schließlich die Lichtung erreichte, wo Knospe und Maya in panischer Angst wie Äffchen höher und höher auf ihren Fluchtbaum klommen.
Alte Beere wurde vor Schreck ganz starr. Auch andere Frauen hielten in ihrer Arbeit inne und hoben die Köpfe. Mutter Löwes wütendes Gebrüll hallte noch in ihren Ohren nach.
»Die Kinder! Wo sind die Kinder?« rief Alte Beere.
Die Frauenschar sprang auf die Füße; Augen suchten die Umgebung ab, Ohren wurden gespitzt, Rufe erschollen. Irgend jemand jammerte laut.
Alte Beere erkannte die Stimme, wenn sie auch die Worte nicht verstehen konnte - Blüte. Das sagte ihr alles, was sie wissen mußte.
»Mayaaaa! Wo ist Maya? Und Knospe? Knospe ist auch verschwunden!«
Alte Beere humpelte zu der hysterischen Frau hinüber, hob die Hand und schlug ihr hart ins Gesicht. Blüte taumelte zurück. Vernunft begann in ihre glasigen Augen zurückzukehren.
»Sei still. Reiß dich zusammen! Und jetzt denk nach! Wo waren die Mädchen, als du sie zum letztenmal gesehen hast?«
Schniefend sah Blüte sich um, während sie überlegte und ein dünner Blutfaden aus ihrem Mundwinkel rann, den Alter Beeres Ohrfeige hervorgerufen hatte. »Da drüben... da. Das glaube ich wenigstens«, antwortete sie unsicher und deutete in
Richtung der kleinen Schlucht. »Aber sie haben doch nur gespielt...«
Alte Beere schnaubte verächtlich. »Dieses Mädchen!«
In diesem Moment riß Blüte die Augen weit auf. »Ich höre sie! Könnt ihr sie denn nicht hören?«
Alte Beere vermochte die schrillen Mädchenschreie nur zu gut zu vernehmen. Und sie konnte auch das Knurren und Brüllen hören, das die Schreckensschreie untermalte.
»Ja, ich kann sie hören. Das bedeutet, daß sie noch am Leben sind.« Sie zwang sich, sich zusammenzureißen, und wandte sich zu den anderen Frauen um. »Du und du, ihr bringt die anderen Kinder zurück.
Bewegung!« Sie suchte den Boden ab. »Ihr anderen nehmt euch Steine.
Nehmt euch Stöcke, Äste, irgend etwas. Kommt schon, Beeilung!«
Als die Frauen davonstoben, um ihren Befehlen nachzukommen, rang Alte Beere die Angst in ihrem Herzen nieder, so gut sie es vermochte. Sie hatte, vielleicht als einzige der Frauen, eine Vorstellung davon, was Maya einst wirklich werden könnte. Alter Zauber hatte ihr keine Geheimnisse verraten, doch auch Alte Beere kannte ein paar der alten Lieder. Frauen gaben, ganz wie die Männer auch, ihre Gesänge von uralten Zeiten an weiter durch die Jahrhunderte, und sie wußte mehr, als sie den anderen preisgab.
Wenn Maya etwas zustieß ... Sie verfluchte ihre schwachen alten Knochen, und vertrieb die Hoffnungslosigkeit, die über sie hereinzubrechen drohte. Keine Zeit zum Jammern! Sie würde ihr Bestes tun, mit dem, was ihr zur Verfügung stand.
In aller Eile versammelte sie die noch verbliebenen Frauen um sich, die Stangen, Keulen oder schwere Steine gesammelt hatten. »Kommt mit!«
befahl sie, befahl sie, während sie sich schon der kleinen Senke und den gräßlichen Geräuschen zuwandte, die von einem Ort irgendwo weiter entfernt erklangen. Sie bemerkte, daß Blüte ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden hatte und nun einen gefährlich aussehenden Stab schwang, der fast so groß war wie sie selbst.
»Los«, erklärte Alte Beere, umklammerte ihren eigenen Stab fester und stapfte den anderen voran über den steinigen Boden.
Eine stolze Erregung durchzuckte Alte Beere, als sie ihre zu allem entschlossene Streitkraft in die Schlacht führte. Die Männer, selbst mit ihren schrecklichen Speeren bewaffnet, hätten sich diesem Feind niemals gestellt. Nicht für zwei kleine Mädchen. Aber sie führte Frauen in den Kampf, Frauen und, was noch wichtiger war, Mütter.
Alte Beere kannte ein Geheimnis, das sie beruhigte. Männer waren nur Männer... doch Mütter, die ihre Kinder
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