Maya und der Mammutstein
Blätterdächer nahmen ihnen die Sicht. In kurzer Zeit verloren sie jeglichen Orientierungssinn.
Mayas Herz schlug heftig. Der Atem brannte wie Feuer in ihrer Lunge.
Dünne Blutrinnsale flössen ihr dort, wo die Zweige ihre Haut wie Messer geritzt hatten, über die Wangen. Sie trieb Knospe an, blickte voller Entsetzen über die Schulter zurück. Sie erwartete jede Sekunde, jene schreckliche, sandfarbene Gestalt durch das Unterholz brechen zu sehen.
Die Zeit schien sich endlos zu dehnen. Obwohl es nur Sekunden waren, erschien es Maya doch wie Monate, ja Jahre, bevor sie schließlich durch das dichte Unterholz auf eine kleine Lichtung stürzten.
Junge Hickorybäume umstanden den Saum der Lichtung.
Dahinter ragten größere Bäume, deren lange Stämme glatt wie polierte Knochen waren, schweigend in den Himmel auf.
Ein Versteck! dachte Maya außer sich vor Angst. Sie sah nach allen Seiten, hielt Ausschau nach einer kleinen Höhle, einem Loch im Boden, nach irgend etwas.
Aber hier gab es nichts, das ihnen Schutz hätte bieten können, nur die Bäume und diese merkwürdige, tödliche Stille. Sie konnte den eigenen Atem in ihren Ohren dröhnen hören.
Meeuuuooowww...!
Zuerst beachtete sie das leise Fauchen nicht, weil sie es nicht zu deuten wußte. Dann erspähten ihre schreckgeweiteten Augen, woher das Fauchen stammte, nur undeutlich sichtbar zwar, aber dadurch nicht weniger furchteinflößend: noch zwei!
Ein verschwindend geringer Teil von ihr registrierte, daß diese beiden Löwen kleiner waren als der in der Nähe des Gra bens. Aber jeder von ihnen war noch an die zweihundert Pfund schwerer als die Mädchen.
Wir stecken in der Falle!
Knospe schluchzte in panischer Angst. Maya warf einen Blick auf sie.
Das Gesicht ihrer Schwester war weiß wie Schnee.
Wir haben keine Zeit mehr!
Knospe kniff die Augen zusammen, als könne sie so alles Böse ausschließen. Das Schluchzen, das sich ihren Lippen entrang, war kaum mehr hörbar. Maya packte eine Strähne ihres dunklen Haars und zog kräftig daran. Knospe riß die Augen weit auf.
»Ein Baum. Klettere auf einen Baum!«
Knospe starrte sie verständnislos an. Am anderen Ende der Lichtung erhob sich langsam einer der jungen Löwen. Nie zuvor in seinem kurzen Leben hatte er Gestalten wie die gesehen, die so seltsame Geräusche von sich gaben - und ohne seine Mutter, die ihm hätte zeigen können, was man mit diesen Wesen anstellte, war er ratlos.
»Urroouuuww...«, ließ er klagend vernehmen. War das etwas, was man jagen konnte? Oder war es nur zum Spielen, so wie sein Bruder? Er setzte zögernd eine Pfote vor, dann die andere und ging vorsichtig weiter.
Maya packte Knospe an den Schult ern und wirbelte sie herum. Sie legte ihre Lippen geradewegs auf Knospes Ohr und brüllte aus voller Brust:
»Der Baum da! Da! Klettere auf diesen Baum!« Unsanft stieß sie ihre Schwester vorwärts, auf einen mittelhohen Hickorybaum zu, der immer noch genügend niedrige Seitenäste hatte, an denen man sich festhalten konnte.
Endlich löste sich auch Knospe aus ihrer Erstarrung. Sie taumelte nach vorn, bis ihre Hände auf die Rinde eines Baumes trafen, den sie sogleich zu erklimmen begann.
Maya eilte ihr nach, stieß mit ihrem Fuß gegen ein Hindernis und stürzte.
Jetzt war auch der andere junge Löwe aufgestanden und hatte sich seinem Bruder angeschlossen. Gemeinsam, aber immer noch zögernd und unsicher, überquerten sie die Lichtung.
Als Maya wieder auf die Füße kam, hielt sie den vertrockneten Ast, über den sie gestrauchelt war, in den Händen. Er war nur ein paar Fuß lang, dafür jedoch leicht genug, so daß sie ihn schwingen konnte. Nicht gerade viel, aber besser als nichts!
Sie blieb stehen, den Rücken an den Baums tamm gepreßt, und sah den Löwen jungen entgegen. Der vordere von beiden setzte unvermittelt zu einem Sprung an, um den noch verbliebe nen Abstand zu seinem Gegenüber zu überwinden, und hieb mit einer Tatze nach dem kleinen Mädchen vor seiner Nase.
Maya kreischte vor Schrecken auf; dann, als sich Tränen und Blut auf ihrer Wange mischten, schlug sie mit dem Ast zurück.
Seine Spitze traf die empfindlichen Schnurrbarthaare der großen Katze, die daraufhin fauchend und überrascht zurückwich.
Maya ließ den Stock zu Boden fallen, und kletterte eilends auf den Baum.
»Klettere! Klettere höher! Komm schon, Beeilung, rauf mit dir!«
Mutter Löwe blinzelte. Eben waren die seltsamen Gestalten noch dagewesen, im nächsten Augenblick waren sie weg.
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