Maya und der Mammutstein
anderen.
Geruch: Die Felle im Geisterhaus rochen staubig, als müßten sie dringend einmal nach draußen an die frische Luft gehängt und ausgeschlagen werden, bis blaugraue Staubwolken aus ihnen herausstoben. Geschmack: Irgend etwas in ihrem Mund, schwach und kupfrig - Blut. Gehör: Der Atem von Altem Zauber, gurgelnd und rasselnd. Schließlich der Tastsinn: Der Stein fühlte sich ein bißchen kalt an, trotz seines Glanzes jedoch nicht im mindesten glitschig. Trocken. Fast schwerelos.
Sie wollte ihn nie wieder loslassen.
Wortlos hob sie den Mammutstein zu ihrem Antlitz empor und strich sich damit über die Wange. Hauchte ihn an, spürte eine Antwort, die ihr zuteil wurde, von irgendwoher sehr, sehr weit weg.
Sie sah Alten Zauber an.
»Oh«, sagte sie. »Oh, oh.«
»Das Geheimnis?« fragte er nur. »Du kennst das Geheimnis?«
Doch sie kannte es nicht. Jetzt noch nicht. Aber bald.
KAPITEL ZEHN
Das Grüne Tal: 17983 v. Chr.
Irgendwo sang ein Vogel. Maya blinzelte in die Sonne. »Was?«
»Kennst du das Geheimnis?« wiederholte Alter Zauber mit sanfter Stimme. Sein Blick bohrte sich in die ihrer Augen, wie die kleinen schwarzen Käfer, die sie in dem weichen Schlamm am Flußufer gesehen hatte, sich dort in Löcher gegraben hatten.
Geheimnis? Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Manchmal waren die Alten eben so, sagten oder taten Dinge, die in Mayas Augen keinen Sinn ergaben, und in solchen Momenten war es ihr, als seien sie irgendwie in eine fremde Welt geglitten. Das machte ihr für gewöhnlich angst; denn wenn die beiden sie allein lassen würden, dann wäre sie wahr-haftig allein. Die Einsamkeit stellte sie sich vor, als lausche man des nachts dem Heulen des Winterwinds hoch oben über dem Tal. Doch sie spürte seine gespannte Erwartung; obwohl die Stimme des Schamanen sanft gewesen war und seine Frage bedächtig, brannten doch seine Augen wie glühende Kohlen in der Herdstelle, als er sie unverwandt anstarrte.
»Ich... ich weiß nicht...«, setzte sie an, und sie wußte, daß ihre Antwort ihm nicht gefallen würde. Und dann senkte sich Nebel über die Dinge um sie herum wie schon zuvor.
Es gibt keine Geheimnisse vor mir.
Alter Zauber schnappte nach Luft. Die Veränderung hatte nur Sekundenbruchteile gedauert, doch nun saß ihm jemand, der nicht Maya war, mit untergeschlagenen Beinen auf der anderen Seite des Feuers gegenüber und sah ihn an. Die so fremdartigen Augen des Mädchens hatten sich verdreht, so daß keine Farbe mehr zu sehen war und nur noch das Weiße die Augäpfel füllte.
Eine eisige, naßkalte Welle der Furcht durchflutete ihn. Er spürte, wie die Haut auf der Rückseite seiner verwitterten Hände prickelte. Wäre er jünger, wären seine Knochen kräftiger, seine Muskeln reaktionsfähiger gewesen, hätte er einen Schrei äußersten Entsetzens ausgestoßen und wäre kreischend aus dem Zelt gestürzt.
Diese Stimme, diese Stimme!
Niemals war ein solcher Laut an seine Ohren gedrungen, nicht in dieser Welt und nicht außerhalb dieser Welt, nicht in kleinen und nicht in großen Träumen. Immer noch hallte der Klang dieser Stimme nach, und die Worte dröhnten in seinem Schädel wie der entfernte Donner des Eises, der alle Tage das Tal erfüllte. Es dröhnte und dröhnte, bis er es nicht mehr ertragen konnte, so daß er sich die Ohren mit seinen leberfleckübersäten Händen zupreßte und Tränen durch die tiefeingeschnittenen Furchen seines Gesichts rannen und er flüsterte: »Halte ein. O bitte, halte ein!«
Dann geschah etwas Fürchterliches. Nach einer Zeitspanne von zehn Herzschlägen, als habe seine entsetzte Bitte so lange gebraucht, um ans Ziel zu gelangen (nicht weiter als die andere Seite des Feuers), lächelte es ihn an, das Ding, das nicht Maya war.
Es war eine langsame, zuckende Bewegung, die wenig mit dem warmen Lächeln eines Menschen zu tun hatte, und dafür eher dem Ausdruck ähnelte, der Stunden nach Eintreten des Todes die Schnauze eines erlegten Karibus verzerrte. Alter Zauber dachte daran, wie kleine Kinder mit einer solchen Trophäe spielten, die Haut in diese und jene Richtung zogen, das tote Fleisch so formten, daß der Anblick sie in Gelächter ausbrechen ließ. Doch das Schlimmste an dem Lächeln war seine Kälte, es hatte überhaupt nichts mit Maya und nur sehr wenig mit Zauber zu tun.
Es war, als habe das Ding, das nicht Maya war, eine Maske anprobiert, etwas, von dem es annahm, es sei in Zaubers alten Augen angenehm. Es war etwas Zögerndes an diesem
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