Maya und der Mammutstein
Große Mutter selbst in dieser Welt würde einschreiten können.
Und wieder erfüllte ihn unsägliches Mitleid. Er wußte, was mit Steins Messern geschah, wenn sie durch den ständigen Gebrauch abgenutzt waren. Sie wurden stumpf und zerbra chen, wurden weggeworfen.
Das war die Bestimmung von Werkzeugen. Und zum erstenmal hatte die Mutter von ihrem Werkzeug Gebrauch gemacht, um sich ihm zu enthüllen. Auch er war nicht mehr derselbe wie zuvor, jetzt saßen sie beide einander gegenüber, anders, als sie noch ein paar Augenblicke zuvor gewesen waren, doch beide auf ihre Art genauso unwissend.
Draußen wurde das Stimmengewirr dringender. Er ahnte, daß sich das Volk versammelte und darauf wartete, daß er vor sie treten und ihnen die Botschaften der Geister übermitteln würde.
Er hatte seine Botschaft. Doch es war eine, die er ihnen nie verständlich machen konnte.
Die Große Mutter ist unter uns. Jetzt ist sie beim Volk.
Oh, oh, oh, und schrecklich ist sie.
»Nein, Maya«, sagte er aus den Tiefen seiner neugefundenen Stärke, »ich habe kein Geheimnis für dich. Noch nicht. Aber ich habe etwas anderes.«
Ihre klaren Augen, blau und grün, funkelten vor Erwartung. »Oh, was denn, Alter Zauber? Was ist es?« fragte sie. Aber Alter Zauber schwieg, sah sie nur stumm an, und auf seinem Gesicht lag der Ausdruck, den sie jedesmal bei ihm beobachtet hatte, wenn er ihr ein besonders kostbares Geschenk zu machen beabsichtigte - ein winziges glitzerndes Steinchen oder ein kleines, in Leder eingeschlagenes Bündel süßduftender Krau ter -, und da vergaß sie diesen seltsamen Augenblick, als ein Licht in der Dunkelheit in ihr gestrahlt hatte.
»Sag's mir!« bettelte sie.
Und mit dem sicheren Bewußtsein, daß das, was er tun würde, zum erstenmal richtig war, absolut richtig, sagte er: »Würdest du gerne hier bei mir wohnen? Im Geisterhaus? Würdest du das gerne tun, kleine Maya?«
Geist blieb kurz vor seinem eigenen Zelt stehen und beobachtete eine Wolkenformation, die rasch über den blauen Himmel glitt und ein Schattenmuster auf den Boden unter ihr warf. Einen kleinen Augenblick lang, während der Schatten vorüberzog, sah sein hageres Gesicht aus, als sei es hundert Jahre alt.
Nicht weit weg, legte sich der Tumult allmählich. Kleine Menschenansammlungen - er entdeckte Speer inmitten einer dieser Gruppen, wie er gestikulierte und zum zehnten- oder hundertstemmal erklärte, wohin er gegangen war, was er gesehen hatte -, standen immer noch dicht gedrängt zusammen wie Dreckklumpen, doch unter seinen Blicken bröckelten diese.
Dreck. Nichts als Dreck.
Wie er.
Alter Zauber hatte sich zum Mysterienzelt der Männer be geben, jenem Zelt, das aus Knochen und Soden und schwerer, halbgegerbter Haut errichtet war, zur Hälfte in die Erde eingegraben auf dem Sims über dem Flüßchen. Der Schamane hatte Geist durch die Art, wie er sich bewegte, durch die Kraft seiner Stimme in Schrecken versetzt. Geist hatte nun schon seit langer Zeit die Monate und Tage gezählt, in denen Zaubers Kräfte zusehen nachgelassen hatten, und tief in seiner Brust bewahrte er einen Hoffnungsschimmer. Er kann nicht ewig leben, kann nicht ewig leben, hatte ihm stets eine Stimme zugeraunt, doch jetzt plötzlich bewegte sich der alte Schamane, als wäre er nicht einmal halb so alt, wie er an Sommern zählte.
In seinen Schritten lag ein neuer, federnder Schwung, und seine Finger waren weniger verkrümmt, weniger klauenähnlich. Dies hatte Geist bemerkt, als der Schamane die Insignien seiner Würde mit festem Griff umklammert hatte - den lan gen, geschnitzten Stab, die Rassel, die Schnur, mit der die Geister gebunden wurden.
Alle Männer waren ins Zelt des Mysteriums geströmt, bis sie Schulter an Schulter an den zwei kleinen Feuern saßen, die im Inneren des Zeltes unter ins Dach geschnittenen Abzugslöchern brannten.
Der Geruch von Schweiß, nassen Fellen, Schmutz und modrigen Tannennadeln auf dem Boden, von verfaulendem Fleisch und heißen Steinen war überwältigend, doch Geist war daran so gewöhnt, daß er kaum Notiz davon nahm, außer daß er sich ein- oder zweimal, verärgert über die qualmenden Feuer, durch die Augen rieb.
Der Schein der Feuer erhellte die Zeichnungen, mit denen das Zeltdach geschmückt war, ließ sie tanzen. Dort oben tollten Mammuts mit langen, gebogenen Stoßzähnen umher; riesige Bisons, deren Nackenfell zottig herunterhing; ein Rudel Löwen, die auf die Rücken vor Angst schreiender Karibus sprangen; und Männer mit
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