Maya und der Mammutstein
Sonne. Sie war sich ziemlich sicher, daß sie dieses Licht schon einmal gesehen hatte, konnte sich indes nicht genau erinnern, wo. Plötzlich entsann sie sich Zaubers Frage.
»Ich kenne kein Geheimnis, Zauber«, erklärte sie mit leiser Stimme. »Es tut mir leid. Bist du jetzt böse auf mich?« Dann wandte sie sich praktischeren Überlegungen zu. »Komm. Laß mich dir helfen.«
Sie beugte sich vor, um Zaubers Robe zu packen, und der Mammutstein kullerte vergessen von ihrem Schoß zu Boden.
Zauber zischte.
Sie fuhr erschrocken zurück. Was für eine Ungeheuerlichkeit hatte sie nun schon wieder begangen?
»Der... der Stein!« prustete Zauber, der so entsetzt war, daß er kaum sprechen konnte. »Heb den Stein auf!«
»Was? Oh. Ich habe ihn.« Sie rieb ihn am Pelz ihrer Beinkleider sauber.
»Siehst du? Es ist nichts passiert.«
Zauber merkte, daß seine Finger zitterten wie eisbedeckte Zweige im Sturm. Selbst unter dem warmen Pelz seiner Fausthandschuhe knirschten und ächzten seine Hände (er wußte, daß sie nie wieder warm werden würden), während er den Stein wieder in seine Schutzhülle aufnahm.
Er brauchte mehrere Anläufe - am schwierigsten waren die Knoten -, bevor er den Stein wieder sicher verpackt hatte. Maya beobachtete seine Anstrengungen mit neugierigem Interesse, während ihre verschwommene Erinnerung an das Licht schon wieder verblaßte. »Wirst du mir nun ein Geheimnis anvertrauen, Alter Zauber? Wolltest du deshalb wissen, ob ich schon eins kenne?« Sie senkte den Blick in ihren Schoß, und ihr Gesichtsausdruck war plötzlich traurig und ernst. »Ich wünschte, ich würde eins kennen«, fuhr sie fort, »aber ich kenne keins.«
Du kennst mehr, als dir lieb ist.
Und was sollte er nun tun? Nie hatte die Bürde des Geheimnisses so schwer auf seinen Schultern gelastet. Ihm war klar, ohne genau zu wissen, woher, daß die Dinge an einem Wendepunkt angelangt waren. Es war, davon war er restlos überzeugt, kein Zufall, daß das Blut zwischen Mayas Beinen und daß das neue Volk am Ufer des Flusses zur selben Zeit eingetroffen waren. Denn er hatte soeben mit seinen entsetzten Augen das dritte Zeichen erblickt: Die Mutter hatte sich ihres Werkzeugs bedient.
Maya gehörte nicht mehr sich selbst. Sie gehörte, so fuhr es ihm mit neuerlichem Schrecken durch den Kopf, gar nicht mehr zum Volk, außer in einem sehr weitgefaßten Sinn. Sie war ein Werkzeug, nicht mehr und nicht weniger als die Messer und Beile und Schaber, die das Volk bei seinen täglichen Verrichtungen benutzte - doch mit einem Unterschied: Sie wurde von einer Gottheit benutzt.
Nutze mich wohl!
Und diese Worte waren nicht an Maya, sondern an ihn gerichtet gewesen.
Die Verantwortung ruhte auf seinen Schultern; es verlangte ihn verzweifelt danach, dagegen anzuschreien, doch er konnte das genausowenig tun, wie er den Wind niederschreien oder den meilenhohen Eiswall im Norden zum Schmelzen bringen konnte.
Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich älter, müder oder hilfloser gefühlt. Doch tief in seinem Innern brannte eine Flamme, stark und hell und heiß; das war die Liebe, die er immer für sein Volk empfunden hatte, und auf ihre Art war diese Liebe nicht weniger stark als die Große Mutter selbst. Als er sich dem Mädchen, das sich nun so vollständig gewandelt hatte, zuwandte, griff er tief in diesen Schatz der Liebe und fand dort zu seinem Erstaunen die Kraft, die er brauchte. Er zog die Handschuhe aus und entdeckte, daß seine Hände doch wie der warm und biegsam geworden waren.
Er ließ die Muskeln und Gelenke seiner Hände spielen und starrte sie erfreut an. Selbst Maya schien zu erkennen, daß seine Hände nicht mehr schmerzten.
»Alter Zauber, deine Hände... sie sehen so anders aus.«
Und in der Tat, so war es. Die dunkelroten Leberflecke waren geschrumpft, fast vollständig verschwunden, und die geschwollenen, knotigen Gelenke sahen kleiner aus, glatter. Seine Hände waren jünger geworden, und eine neue Kraft pulste durch sie.
Starke Hände, dachte er bei sich. Ich werde starke Hände brauchen. Und in diesem Augenblick verstand er, daß die Große Mutter ihm dieses Geschenk hatte zuteil werden lassen: Die Kraft des Lichtes, die Kraft, weiterzumachen. Die Kraft, zu tun, was notwendig war. Die Kraft, Maya wohl zu nutzen.
Dieser Moment der Erkenntnis brachte ihm auch die letzte Enthüllung nah: Maya war zu einem einzigen Zweck geboren worden, dem, das Sprachrohr der Großen Mutter zu sein, das Verbindungsglied, so daß die
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