Maya und der Mammutstein
so spitz waren, daß sie das Leder leicht durchdrangen. Das Nähen war nur eine ihrer zahlreichen Fertigkeiten; es gab so vieles, dessen sie kundig war, obwohl sie, da sie nur wenig mit den anderen Frauen und Mädchen zu tun hatte, gar nicht so recht einschätzen konnte, wie außergewöhnlich ihre Überfülle an Fähigkeiten war. Für sie war all dies selbstverständlich: Beere und Zauber hatten sie schließlich sieben Jahre lang unterrichtet, und sieben Jahre lang hatte sie von ihnen gelernt. Sie wußte, daß ihre Erziehung anders als die der übrigen Mädchen war, aber schließlich war bei ihr eben alles anders.
Aber was ist mit Beere los? hatte sie sich gefragt, als sie mit dem Ankleiden fertig gewesen war und ein letztes Mal glättend über ihren Umhang gestrichen hatte. Das Karibufell hatte sich weich und dick angefühlt. Beere hat Angst, hatte sie schließlich entschieden. Doch sie hatte nicht zu ergründen vermocht, wovor Beere Angst haben mochte.
Vor dem neuen Volk vermutlich. Doch diese Neuigkeiten hatte Beere schon vorher erfahren, sofort, nachdem die Jäger ins Heimlager zurückgekehrt waren. Und da hatte es ihr keine Angst gemacht. Erst, nachdem sie wieder zum Geisterhaus gegangen war und stundenlang mit Altem Zauber geredet hatte, war sie voller Furcht zurückgekommen.
Maya hatte geglaubt zu spüren, daß die Angst der alten Frau etwas mit ihr zu tun hatte, was jedoch, hatte sie sich nicht vorstellen können. Und nun, in der heißen, nach Zimt und Minze und säuerlichem Schweiß duftenden Dunkelheit des Geisterzeltes, sah sie es wieder. Die Angst. Denn auch Alter Zauber hatte Angst.
» nimm dies, bitte, und halte es in deinen Händen.«
In dem Dämmerlicht hatte sie nicht richtig erkannt, was er in seinem Schoß enthüllt hatte, während er mit ihr gesprochen hatte. Immer zeigte er ihr etwas. Sie beugte sich vor, heuchelte Interesse, während sie in Wirklichkeit nur fragen wollte: Was ist mit dem neuen Volk?
Und dann erblickte sie den Mammutstein, und die Zeit schien stillzustehen.
Plötzlich war es, als sei sie ganz allein auf der Welt. Sie konnte Alter Zauber nicht mehr sehen. Sie konnte das allgegenwärtige kleine Feuer nicht mehr sehen, nicht die schattenhaften Anhäufungen von Steinen, rituellen Gegenständen, Blättern und Beeren, die an den Wänden des Geisterhauses entlang aufgestapelt waren.
Als sie sich vorbeugte, konnte sie ihre eigenen Hände nicht mehr sehen, nicht den Karibuüberwurf, den sie am Leibe trug, nicht die Mokassins, die an ihren Beinlingen festgebunden waren.
Es war, als bestehe sie nur noch aus Augen, und als existierte nur mehr das, was sie sehen konnte, und alles, was sie sehen konnte, war der Mammutstein.
Sie wußte ziemlich genau, daß sie ihn nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, doch trotzdem war er ihr so vertraut wie Alte Beeres zerfurchtes Antlitz, wie der trockene, saure, verdorbene Geruch von Altem Zaubers Atem.
Sie selbst hatte kurzfristig aufgehört zu atmen, doch das war ihr nicht bewußt. Irgendwie näherte der Stein sich ihr (oder näherte sie sich ihm? -
sie wußte es nie genau zu sagen), und dann schwebte er in der glimmenden Dunkelheit direkt vor ihren Augen.
Mühelos konnte sie jede Einzelheit erkennen. Der Stein besaß etwa die Größe ihrer Hand. Es war ein Mammut, liebevoll geschnitzt, sachte poliert, nie berührt. Ein einzelnes Auge blickte zu ihr hoch. Am hinteren Ende des Mammuts, wo sich der Schwanz hätte befinden sollen, war ein Elfenbeinstumpf, als sei die Figur dort entzweigebrochen, von etwas anderem losgerissen worden.
Maya fragte sich, was dieses andere wohl gewesen sein mochte, doch dann verblaßte auch dieser Gedanke, als handele es sich um eine Frage, die nicht gestellt werden mußte. Jedenfalls noch nicht.
Von weit, weit weg drangen Worte an ihre Ohren. Worte, die nicht wirklich gesprochen wurden, die sie aber dennoch verstand.
Nimm... den... Stein.
»Ja«, flüsterte sie sanft.
Es war überaus merkwürdig. Sie wußte, daß sie ihre Hand nach dem Stein ausstreckte und daß ihre Finger immer näher an ihn herankamen, näher, näher.
Sie konnte sie nicht sehen. Nicht ihre Finger, nicht ihre Hände, nichts.
Nur das Gefühl, war da, daß sie ihn umschloß, ihn aufnahm, ihn an jenen Platz im Zentrum ihrer selbst setzte, der vorher, ohne daß sie es gewußt hatte, leer und kalt und einsam gewesen war.
»Ahhh«, kam es über ihre Lippen.
Die Welt kehrte zurück.
Ihre Sinne begannen wieder zu funktionieren, einer nach dem
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