Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)

Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)

Titel: Mayas Tagebuch: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
Vom Netzwerk:
hätte gleich mit dem Medizinstudium beginnen können, war aber so offensichtlich unreif, dass Alfons ihn drängte, noch ein Jahr zu warten und sich ein bisschen der rauen Wirklichkeit auszusetzen. »Du bist ein Grünschnabel, Daniel, wie willst du Arzt sein, du kannst dir ja nicht mal allein die Nase putzen.« Gegen den hartnäckigen Widerstand von Robert und Alice schickte Alfons den Jungen mit einem Austauschprogramm nach Guatemala, damit ein Mann aus ihm würde und er Spanisch lernte. Daniel wohnte neun Monate in einem Dorf am Atitlán-See bei einer Maya-Familie, baute Mais an und drehte Sisalschnüre, ließ nichts von sich hören und kam petroleumfarben zurück, hatte ein undurchdringliches Haargestrüpp auf dem Kopf und Guerilla-Ideen darin und redete fließend K’iche’. Danach war das Medizinstudium ein Kinderspiel für ihn.
    Vielleicht wäre die herzliche Dreiecksverbindung Goodrich-Zaleski nach dem Heranwachsen der Kinder zerbrochen, aber die Notwendigkeit, sich um Frances zu kümmern, hat die drei zusammengeschweißt. Frances ist völlig von ihnen abhängig.
    Als die Familie vor neun Jahren ohne den Polen zum Klettern in der Sierra Nevada war, stürzte Frances schwer, brach sich unzählige Knochen und kann sich auch nach dreizehn schwierigen Operationen und mit ständigem Training noch heute kaum bewegen. Daniel fand sich in seinem Entschluss zum Medizinstudium bestärkt, als er seine Schwester schwerverletzt auf der Intensivstation sah, und entschied sich für die Psychiatrie, weil sie ihn darum bat.
    Drei lange Wochen lag Frances im Koma. Ihre Eltern trugen sich mit dem Gedanken, die künstliche Beatmung einzustellen, weil sie eine Hirnblutung erlitten hatte und die Ärzte ihnen keine Hoffnung machten, dass sie je wieder zu Bewusstsein käme, aber Alfons Zaleski ließ es nicht zu. EineEingebung sagte ihm, dass Frances in einem Zwischenreich trieb, aus dem sie zurückkehren würde, wenn man sie nicht losließ. Die Familienmitglieder wechselten einander ab, um Tag und Nacht bei ihr im Krankenhaus zu sein, redeten mit ihr, streichelten sie, riefen sie, und als sie schließlich an einem Samstagmorgen um fünf die Augen aufschlug, saß Daniel bei ihr. Frances konnte wegen des Luftröhrenschnitts nicht sprechen, aber er übersetzte, was ihre Augen sagten, und ließ die Welt wissen, seine Schwester sei überglücklich, dass sie lebte, und sie sollten ihr barmherziges Vorhaben, ihr beim Sterben zu helfen, besser aufgeben. Die beiden waren wie Zwillinge aufgewachsen, kannten den anderen besser als sich selbst und brauchten keine Worte, um einander zu verstehen.
    Die Hirnblutung hatte nicht den befürchteten Schaden angerichtet, Frances hatte nur vorübergehende Gedächtnisausfälle, schielte etwas und war auf einem Ohr taub, aber Daniel merkte, dass etwas grundsätzlich anders geworden war. Früher war seine Schwester wie sein Vater sehr rational und logisch gewesen, mit einer Neigung zu Wissenschaft und Mathematik, aber seit dem Unfall denkt sie mit dem Herzen, sagt er. Sie errate Absichten und Stimmungen anderer, man könne ihr unmöglich etwas verheimlichen oder vormachen, und manchmal habe sie hellseherische Ahnungen, weshalb Alfons Zaleski mit ihr übe, die Gewinnzahlen der Lotterie vorherzusagen. Ihr Vorstellungsvermögen, ihre Kreativität und Intuition haben sich atemberaubend entwickelt. »Der Geist ist viel interessanter als der Körper, Daniel. Du solltest Psychiater werden wie Papa, vielleicht findest du heraus, wieso ich so gern leben will, während andere, die gesund sind, sich umbringen«, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte.
    Die Unerschrockenheit, mit der Frances früher riskanten Sportarten nachging, hilft ihr heute dabei, all das durchzustehen; sie hat sich geschworen, dass sie wieder auf dieBeine kommt. Zur Zeit ist sie vollauf mit den Reha-Maßnahmen beschäftigt, die täglich mehrere Stunden in Anspruch nehmen, führt daneben ein erstaunliches soziales Leben im Internet und studiert; dieses Jahr macht sie ihren Abschluss in Kunstgeschichte. Sie lebt bei ihrer außergewöhnlichen Familie. Die Goodrichs und Zaleski hielten es für sinnvoller, zusammenzuziehen, und bewohnen jetzt mit ihren Cockerspaniels, die mittlerweile zu siebt sind, ein großes, einstöckiges Haus, in dem Frances sich mit ihrem Rollstuhl bequem bewegen kann. Zaleski hat mehrere Kurse besucht, um Frances bei ihren Übungen zu helfen, und inzwischen weiß niemand mehr so genau, was das eigentlich für ein Verhältnis

Weitere Kostenlose Bücher