Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
sie ist meine Schwester, sie hilft dir«, sagte sie. Ich machte, dass ich wegkam, bedankte mich nicht und warf den Zettel draußen in den nächsten Papierkorb. Die fünfDollar reichten für etwas Billiges und Wirkungsvolles. Ich brauchte das Mitgefühl von irgendeiner Michelle nicht.
Am selben Tag verlor ich das Foto von meinem Pop, das meine Nini mir im Internat in Oregon gegeben und das ich seither bei mir getragen hatte. Mir schien das ein fürchterliches Vorzeichen, es konnte nur bedeuten, dass mein Großvater gesehen hatte, wie ich die fünf Dollar stahl, dass er tief enttäuscht war und sich abgewandt hatte, dass niemand mehr auf mich aufpasste. Angst, Sucht, mich verstecken, fliehen, betteln, alles war zu einem einzigen Albtraum geworden, jeder Tag, jede Nacht.
Manchmal überfällt mich die Erinnerung, steht mir eine Szene aus dieser Zeit auf der Straße wie in gleißendes Licht getaucht plötzlich vor Augen, und es schaudert mich. Oder ich wache schweißgebadet auf mit Bildern im Kopf, die so lebendig sind, als wären sie echt. Im Traum renne ich nackt und ohne Stimme rufend durch ein Labyrinth enger Gassen, die sich winden wie Schlangen, rechts und links Gebäude mit blinden Fenstern und Türen, keine Menschenseele, die ich um Hilfe bitten könnte, mein Körper in Flammen, die Füße blutig, Galle im Mund, allein. In Las Vegas glaubte ich mich unwiderruflich verdammt zu dieser Einsamkeit, die mit dem Tod meines Großvaters begonnen hatte. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich eines Tages auf einer Insel in Chiloé, ohne Kontakt zur Welt, versteckt, unter fremden Leuten und weit fort von allem, was mir vertraut ist, dass ich hier sein könnte, ohne mich einsam zu fühlen.
Als ich Daniel gerade kennengelernt hatte, wollte ich einen guten Eindruck machen, meine Vergangenheit löschen, auf einem weißen Blatt Papier von vorn beginnen und eine bessere Version von mir erfinden, doch als wir uns näherkamen und liebten, wurde mir klar, dass das nicht möglich ist und auch nicht wünschenswert. Was ich bin, bin ich durch meineErfahrungen geworden und auch durch meine groben Fehler. Mich bei Daniel auszusprechen hat gutgetan, es hat mir bestätigt, was Mike O’Kelly immer sagt, dass die Dämonen an Macht verlieren, wenn wir sie aus den Tiefen holen, wo sie sich versteckt halten, und ihnen im hellen Licht in die Augen sehen, und doch bin ich mir jetzt nicht mehr sicher, ob ich das hätte tun sollen. Ich glaube, ich habe Daniel erschreckt, und deshalb erwidert er meine Gefühle nicht mit der gleichen Leidenschaft, die ich empfinde. Wahrscheinlich traut er mir nicht über den Weg, das wäre nur natürlich. Eine Geschichte wie meine kann den mutigsten Mann das Fürchten lehren. Aber er hat auch selbst dafür gesorgt, dass ich ihm alles anvertraue. Es war sehr leicht, ihm auch von den schlimmsten Demütigungen zu erzählen, weil er sich alles angehört hat, ohne mich zu verurteilen, was er wahrscheinlich in seiner Ausbildung gelernt hat. Therapeuten machen doch nichts anderes, oder? Zuhören und den Mund halten. Er hat mich kein einziges Mal gefragt, was passiert ist, wollte nur wissen, was ich fühle, während ich davon erzähle, und ich beschrieb ihm das Brennen auf der Haut, das Herzklopfen, das Tonnengewicht, das mich erdrückte. Er meinte, ich soll die Empfindungen nicht wegschieben, sondern sie zulassen und sie mir ansehen, denn wenn ich dazu den Mut fände, dann würden sie irgendwann aufgehen wie Samenkapseln und mein Geist könnte sich befreien.
»Du hast viel gelitten, Maya, nicht nur wegen dem, was dir als Jugendliche widerfahren ist, sondern auch, weil du als Kind verlassen worden bist«, sagte er.
»Verlassen? Verlassen war ich nicht, ehrlich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie meine Großeltern mich verwöhnt haben.«
»Ja, aber deine Mutter und dein Vater haben dich verlassen.«
»Das haben die Therapeuten in Oregon auch behauptet, aber meine Großeltern …«
»Irgendwann musst du dir das alles in einer Therapie noch mal ansehen«, unterbrach er mich.
»Ihr Psychos mit euren Therapien!«
»Es bringt nichts, wenn man seelische Verletzungen zu begraben versucht, sie müssen an die Luft, damit sie vernarben können.«
»Ich habe in Oregon bis zum Abwinken Therapie gemacht, Daniel, aber wenn es ohne nicht geht, könntest du mir ja helfen.«
Seine Antwort klang eher vernünftig als romantisch, er meinte, das sei ein langfristiges Vorhaben und er reise bald ab, außerdem dürfe es in der
Weitere Kostenlose Bücher