Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
ratsam, weil die Seele den Körper so schnell nicht begleiten kann, ihm hinterherhechelt und manchmal auf der Strecke bleibt; das wird wohl derGrund sein, weshalb viele Piloten, wie mein Vater, nie richtig anwesend sind: Sie warten auf ihre Seele, die noch in den Wolken unterwegs ist.
Hier kann man keine DVDs oder Videospiele leihen, Filme gibt es nur einmal in der Woche in der Schule. Mein einziger Zeitvertreib sind die schwülstigen Liebesromane von Blanca Schnake und Bücher über Chiloé, alle auf Spanisch, was sehr gut ist, um die Sprache zu lernen, aber das Lesen fällt mir schwer. Manuel hat mir eine batteriebetriebene Stirnlampe gegeben; mit den Lampen sitzen wir da wie Grubenarbeiter und lesen, wenn der Strom ausfällt. Über Chiloé kann ich noch nicht viel sagen, ich habe das Haus fast nicht verlassen, dagegen könnte ich seitenlang über Manuel Arias, die Katzen und den Hund schreiben, die jetzt meine Familie sind, über Tía Blanca, die ständig hier vorbeischaut, weil sie mich angeblich besuchen will, dabei sieht ein Blinder, dass sie wegen Manuel kommt, und über Juanito Corrales, einen Jungen, der uns auch täglich besucht, um mit mir zu lesen und mit Fákin zu spielen. Der Hund ist sehr wählerisch, was seinen Umgang betrifft, lässt den Jungen aber gewähren.
Gestern habe ich Juanitos Großmutter kennengelernt. Wir sind uns nicht früher begegnet, weil sie in Castro war, der Hauptstadt von Chiloé, wo ihr Mann im Krankenhaus liegt; dem wurde im Dezember ein Bein amputiert, und die Wunde will nicht heilen. Eduvigis Corrales hat eine Hautfarbe wie Terrakotta, ein heiteres, faltiges Gesicht, einen breiten Rumpf und kurze Beine, eine typische Chilotin. Ihr Haar trägt sie, zu einem dünnen Zopf geflochten, um den Kopf festgesteckt, und sie zieht sich an wie eine Missionarin: dicker Wollrock und Holzfällerschuhe. Man könnte sie für sechzig halten, dabei ist sie nicht älter als fünfundvierzig; hier altern die Leute früh und leben lange. Sie hatte einen Eisentopf dabei, schwer wie eine Kanone, wuchtete ihn in der Küche auf den Herd und redete dabei überstürztauf mich ein, wovon ich ungefähr mitbekam, dass sie sich mit dem gebührenden Respekt vorstellen wolle, sie sei die Eduvigis Corrales, die Nachbarin des Herrn und kümmere sich um den Haushalt. »Heihei! Was ein hübsches Dingelchen, diese Gringuita! Schütz sie Gott! Der Herr hat sie ja erwartet, wie alle hier auf der Insel, ja hoffentlich schmeckt ihr das Hühnchen mit den Kartoffeln, das ich ihr gebracht hab.« Was sie sprach, war nicht ein Dialekt aus der Gegend, wie ich erst dachte, sondern ein sehr überhastetes Spanisch. Ich reimte mir zusammen, dass mit »der Herr« Manuel Arias gemeint sein musste, von dem Eduvigis in der dritten Person sprach, obwohl er daneben stand.
Mir gegenüber schlägt Eduvigis inzwischen denselben Befehlston an wie meine Großmutter. Die gute Frau kommt zum Putzen, nimmt die schmutzige Wäsche mit und bringt sie sauber zurück, hackt Holz mit einer Axt, die ich nicht mal hochheben kann, beackert ihr Stück Land, melkt ihre Kuh, schert Schafe und versteht sich aufs Schweineschlachten, hat mir aber erklärt, dass sie nicht mehr zum Fischen und zum Krabbenfang rausfährt wegen ihrer Arthritis. Sie sagt, ihr Mann sei nicht von Natur aus böse, wie die Leute im Dorf glaubten, doch habe die Diabetes seinem Charakter arg zugesetzt, und seit er das Bein verloren habe, wolle er nur noch sterben. Von ihren fünf Kindern, die am Leben sind, wohnt bloß ihre dreizehnjährige Tochter Azucena noch bei ihr, und sie hat ihren Enkel Juanito bei sich, der zehn ist, aber jünger wirkt, weil er von Geburt an »von den Geistern berührt« ist, wie sie mir erklärt hat. Das kann bedeuten, dass der Betreffende geistig zurückgeblieben ist oder dass er mehr Geist besitzt als Materie; bei Juanito muss es Letzteres sein, er ist nämlich alles andere als dumm.
Eduvigis lebt von dem, was ihr Land hergibt, was sie bei Manuel verdient und was ihre Tochter, Juanitos Mutter , die in einer Lachsfabrik im Süden der Isla Grande arbeitet, an Unterstützung schickt. Die industrielle Zucht von Lachsenin Chiloé war nach der norwegischen die zweitgrößte der Welt und hat die Gegend wirtschaftlich vorangebracht, jedoch den Meeresboden verseucht, die kleinen Fischer ruiniert und viele Familien auseinandergerissen. Mittlerweile ist die Industrie am Ende, sagt Manuel, man hat zu viele Fische in die Käfige gepfercht und ihnen Unmengen von
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