Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
wollte dem armen Knirps keinen Ärger machen, musste es Manuel aber doch sagen, und der winkte bloß ab; er sagt, Juanito wird ihn ein paar Tage behalten und dann wieder dort hinlegen, wo er war. Das ist in Chiloé offenbar so üblich. Letzten Mittwoch brachte uns jemand eine Axt zurück, die er vor über einer Woche, ohne zu fragen, aus unserem Holzschuppen geholt hatte. Manuel hatte eine Vermutung, bei wem sie sein könnte, sie zurückzufordern wäre jedoch beleidigend gewesen, denn Stehlen undAusleihen, das sind zwei Paar Schuhe. Die Chiloten sind die Nachfahren würdevoller Ureinwohner und überheblicher Spanier und fühlen sich leicht in ihrem Stolz verletzt. Der Mann mit der Axt gab keine Erklärungen ab, brachte aber einen Sack Kartoffeln mit, den er im Hof abstellte, bevor er sich mit Manuel auf ein Glas Apfel-Chicha vors Haus setzte und den Möwen beim Fliegen zusah. Etwas Ähnliches ist mit einem Verwandten der Familie Corrales passiert, der auf der Isla Grande arbeitet und kurz vor Weihnachten zum Heiraten herkam. Manuel war für ein paar Tage in Santiago, und Eduvigis gab ihrem Verwandten die Schlüssel zum Haus, damit er die Stereoanlage für die Hochzeitsfeier holte. Bei seiner Rückkehr musste Manuel überrascht feststellen, dass seine Anlage sich in Luft aufgelöst hatte, meldete es aber nicht der Polizei, sondern wartete geduldig ab. Auf der Insel gibt es keine richtigen Diebe, und wenn welche von auswärts kämen, könnten sie schwerlich unbemerkt etwas derart Voluminöses von hier fortschaffen. Wenig später holte Eduvigis die Anlage bei ihrem Verwandten ab und brachte sie zusammen mit einem Korb Meeresfrüchte vorbei. Manuel hat seine Stereoanlage wieder, also werde ich auch meinen iPod wiedersehen.
Manuel hält am liebsten den Mund, hat aber gemerkt, dass die Stille in seinem Haus für einen normalen Menschen zu viel sein kann, und gibt sich Mühe, mit mir zu reden. Aus meinem Zimmer hörte ich ihn mit Tía Blanca in der Küche sprechen. »Sei doch nicht so schroff zu der Gringuita, Manuel. Merkst du nicht, wie allein sie ist? Du musst mehr mit ihr reden«, riet sie ihm. »Worüber denn, Blanca? Sie ist wie ein Marsmensch«, knurrte er, muss aber noch einmal darüber nachgedacht haben, denn jetzt ödet er mich nicht mehr mit seinen akademischen Vorträgen an wie zu Beginn, sondern fragt nach meiner Vergangenheit, und langsam bekommen unsere Gedanken Kontur, und wir lernen einander kennen.
Mein Spanisch ist holprig, sein Englisch dagegen fließend, wenn auch australisch gefärbt und mit chilenischer Melodie. Wir sind uns einig, dass ich üben soll, deshalb versuchen wir meistens Spanisch zu sprechen, es dauert aber nicht lange, und wir mischen beide Sprachen in einem Satz und enden bei einer Art Spanglish. Wenn wir uns streiten, redet er überdeutlich Spanisch, damit ich auch ja alles mitbekomme, und ich schreie ihn in einem fiesen Gang-Slang an, damit er Schiss bekommt.
Manuel redet nie über sich. Das wenige, was ich weiß, habe ich erraten oder von Tía Blanca gehört. An seinem Leben ist etwas rätselhaft. Seine Vergangenheit muss düsterer sein als meine, oft höre ich ihn nachts, wie er sich herumwirft und im Schlaf wimmert: »Lasst mich raus! Lasst mich raus!« Alles dringt durch die dünnen Wände. Mein erster Impuls ist immer, ihn zu wecken, aber ich traue mich nicht in sein Zimmer; die fehlenden Türen zwingen zu Diskretion. Seine Albträume beschwören boshafte Erscheinungen herauf, als füllte sich das Haus mit Dämonen. Sogar Fákin fürchtet sich und drückt sich im Bett zitternd an mich.
Meine Arbeit für Manuel ist ziemlich easy. Ich transkribiere seine Interviewaufnahmen und schreibe seine Notizen für das Buch ins Reine. Er ist ein Ordnungsfanatiker und wird schon bleich, wenn ich nur ein Zettelchen auf seinem Schreibtisch verschiebe. »Du darfst dich sehr geehrt fühlen, Maya, du bist der erste und einzige Mensch, der einen Fuß in mein Büro setzen durfte. Ich hoffe, mir tut das nicht irgendwann leid«, sagte er allen Ernstes zu mir, als ich einen Kalender vom vergangenen Jahr weggeworfen hatte. Von einigen Spritzern Spaghettisoße abgesehen, zog ich ihn unbeschadet wieder aus dem Müll und klebte ihn mit einem Kaugummi an Manuels Computerbildschirm. Er redete sechsundzwanzig Stunden nicht mit mir.
Sein Buch über die Magie von Chiloé hat mich so gepackt, dass es mir den Schlaf raubt. (Was nichts heißen will, mir raubt jeder Kinderkram den Schlaf.) Ich bin nicht
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