Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
großen, dunklen Augen an, da fielen mir die Striemen an seinen Beinen wieder ein, die Carmelo Corrales ihm mit dem Gürtel vor Monaten verpasst haben muss, als er ihn noch erwischen konnte. Ich nahm Juanito in die Arme, traurig, weil ich ihn davor nicht beschützen konnte und er von den Schlägen für immer gezeichnet sein wird.
September ist der chilenische Monat schlechthin. Das Land wird von Nord nach Süd beflaggt, und noch in den entlegensten Siedlungen errichtet man »Asthütten«, vier Pfosten mit einem Dach aus Eukalyptuszweigen, unter dem sich das Dorf versammelt, um zu trinken und die steifen Knochen zu amerikanischer Musik zu schütteln und zur Cueca, dem Nationaltanz, der das Balzverhalten von Hahn und Henne nachahmt. Hier stellten wir ebenfalls Asthütten auf, es gab Berge von Empanadas und Flüsse aus Wein, Bier und Chicha; die Männer endeten schnarchend auf der Erde und wurden gegen Abend von den beiden Polizisten und den Frauen in den kleinen Lieferwagen des Gemüsehändlers verfrachtet und auf ihre Häuser verteilt. Kein Betrunkener wandert am 18. und 19. September in die Ausnüchterungszelle, es sei denn, er zieht ein Messer.
Bei Aurelio Ñancupel sah ich im Fernsehen, wie Präsidentin Michelle Bachelet in Santiago die Militärparade abnahm, umjubelt von den Massen, die sie verehren wie eineMutter; nie zuvor war ein chilenischer Präsident derart beliebt. Vor der Wahl vor vier Jahren hätte niemand auf sie gewettet, weil man davon ausging, die Chilenen würden nicht für eine Frau stimmen, obendrein für eine Sozialistin und alleinerziehende Mutter, die erklärtermaßen nicht an Gott glaubt, aber sie gewann die Präsidentschaftswahlen und dann den Respekt von »Mann und Maus«, wie Manuel sagt, obwohl Mäuse auch in Chile nicht wahlberechtigt sind.
Wir hatten ein paar milde Tage und blauen Himmel, der Winter hat vor dem Ansturm der patriotischen Begeisterung die Waffen gestreckt. Mit dem beginnenden Frühling wurden die ersten Seelöwen in der Nähe der Grotte gesichtet, sie kehren bestimmt bald an ihren Stammplatz zurück, und ich kann an meine alte Freundschaft mit der Pincoya anknüpfen, sofern sie sich noch an mich erinnert. Ich gehe fast jeden Tag den Hügel hinauf zur Grotte, weil ich dort auf dem Weg meinen Pop treffen kann. Dass er da ist, zeigt sich deutlich, wenn Fákin nervös wird, der manchmal auch den Schwanz einklemmt und wegläuft. Oft sehe ich nur eine verschwommene Silhouette, rieche den köstlichen Duft von englischem Tabak oder habe das Gefühl, dass mein Pop mich umarmt. Dann schließe ich die Augen und überlasse mich der Wärme und Geborgenheit an seiner breiten Brust, seinem Scheichbauch, den starken Armen. Einmal fragte ich ihn, wo er im letzten Jahr gewesen ist, als ich ihn so dringend gebraucht hätte, und ich musste nicht auf die Antwort warten, weil ich sie im Grunde längst kannte: Er ist immer bei mir gewesen. Solange der Alkohol und die Drogen mein Leben beherrschten, drang niemand zu mir durch, ich war unzugänglich wie eine Auster in ihrer Schale, doch wenn ich keinen Ausweg mehr sah, hielt mein Großvater mich in den Armen. Er hatte stets ein Auge auf mich, und als ich in dieser öffentlichen Toilette an dem verschnittenen Heroin fast gestorben wäre, hat er mich gerettet. Heute, ohne Lärm in meinem Kopf, spüre ich ihnimmer in meiner Nähe. Wenn ich die Wahl habe zwischen dem flüchtigen Vergnügen, einen Schluck zu trinken, und dem denkwürdigen, mit meinem Großvater einen Spazierging über den Hügel zu machen, entscheide ich mich ohne Zögern für Letzteres. Mein Pop hat seinen Planeten am Ende doch gefunden. Diese entlegene Insel, unsichtbar im Tumult der Welt und grün, immer grün, ist sein vermisster Planet; anstatt beständig den Himmel danach abzusuchen, hätte er nur nach Süden schauen müssen.
Die Leute haben ihre Jacken ausgezogen und sitzen in der Sonne, aber ich trage weiter meine gallegrüne Wollmütze, weil unsere Mannschaft die Schulmeisterschaft verloren hat. Meine unglücklichen Caleuche-Jungs übernahmen mit hängenden Köpfen die volle Verantwortung für meinen Kahlkopf. Das entscheidende Spiel fand in Castro statt, die Hälfte der Inselbevölkerung war zum Anfeuern da, sogar Doña Lucinda hatten wir, an einem Stuhl festgezurrt und in Schals gewickelt, in Manuels Boot mitgenommen. Rotgesichtiger und stimmgewaltiger denn je spornte Don Lionel Schnake die Unseren aus voller Kehle an. Und wir hätten auch fast gewonnen, ein Unentschieden
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