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Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)

Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)

Titel: Mayas Tagebuch: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Brüssel und suchte ihn auf, ich wusste, dass er dort lebte und wollte ihn für einen Aufsatz interviewen, den ich für die Jesuiten-Zeitschrift Mensaje schrieb. Er erinnerte sich nicht an mich, war aber bereit, mit mir zu reden. Die zweite Aufzeichnung hat mit der ersten nicht die geringste Ähnlichkeit.«
    »Wie das?«
    »Der Mann erinnerte sich daran, dass er festgenommen worden war, an sonst nichts. Er hatte Orte, Daten und Einzelheiten aus seinem Gedächtnis gestrichen.«
    »Sie haben ihm die erste Aufnahme doch sicher vorgespielt.«
    »Aber nein, das wäre grausam gewesen. In dem ersten Gespräch hat er von Folterungen und sexuellen Übergriffen berichtet, die er erlitten hat. Er hatte das vergessen, um unversehrt weiterleben zu können. Vielleicht ist es bei Manuel genauso.«
    »Falls dem so ist, kommt das, was Manuel verdrängt, in seinen Träumen an die Oberfläche«, meldete sich Liliana, die unser bisheriges Gespräch aufmerksam verfolgt hatte.
    »Ich muss herausfinden, was ihm zugestoßen ist, Pater, bitte helfen Sie mir«, versuchte ich es noch einmal.
    »Dafür müsstest du nach Santiago, Gringuita, und du wirst ziemlich tief graben müssen. Ich kann dir Leute nennen, die dir helfen würden …«
    »Ich fahre hin, sobald ich kann. Haben Sie vielen Dank.«
    »Ruf mich an, wann immer du willst, mein Kind. Ich habe jetzt mein eigenes Handy, aber E-Mails kannst du mir keine schreiben, die Geheimnisse der Computerwelt habe ich mir noch nicht erschließen können. Bei der Kommunikation bin ich arg veraltet.«
    »Sie kommunizieren mit dem Himmel, Pater, was brauchen Sie einen Computer?«, sagte Liliana.
    »Im Himmel ist man längst auf Facebook, mein Kind!«
    Seit Daniel fort ist, werde ich immer ungeduldiger. Es sind schon drei endlose Monate vergangen, und ich mache mir Sorgen. Meine Großeltern haben sich nie getrennt, weil sie sich dann womöglich nicht wiedergefunden hätten; ich fürchte, das könnte mit Daniel und mir passieren. Allmählich vergesse ich, wie er riecht, wie fest seine Hände mich halten, wie seine Stimme klingt, wie schwer er ist, wenn er auf mir liegt, und logisch befallen mich Zweifel, ob er mich überhaupt liebt, ob er wiederkommen will oder unsere Begegnung für ihn bloß die Laune eines vorbeiflatternden Backpackers war. Zweifel über Zweifel. Er schreibt mir, das könnte mich beruhigen, argumentiert Manuel, wenn ich ihn mal wieder in den Wahnsinn treibe, aber er schreibt nicht oft genug und immer sehr knapp; nicht jeder kann sich schriftlich so gut ausdrücken wie ich (Bescheidenheit hin oder her), aber er sagt nicht, dass er nach Chile kommt, und das ist ein schlechtes Zeichen.
    Ich brauchte unbedingt jemanden zum Reden, eine Freundin in meinem Alter, der ich mein Herz ausschütten könnte. Blanca ist von meinen Liebeskummerlitaneien gelangweilt, und Manuel will ich nicht überstrapazieren, weil seine Kopfschmerzen häufiger und heftiger geworden sind, sie strecken ihn oft nieder, und dann helfen keine Schmerztabletten, keine kalten Umschläge und keine homöopathischen Kügelchen. Eine Zeitlang wollte er so tun, als wäre nichts, hat aber dann auf Blancas und mein Drängen hin seinen Neurologen angerufen und muss bald in die Hauptstadt, um dieses verdammte Bläschen in seinem Kopf untersuchen zu lassen. Er ahnt nicht, dass ich vorhabe mitzufahren, dank der großzügigen Hilfe des wundervollen Millalobo, der mir die Reise bezahlen und mir ein bisschen Taschengeld geben will. Die Tage in Santiago werde ich nutzen können, um das Puzzle von Manuels Vergangenheit richtig zusammenzusetzen. Ich muss ergänzen, was ich in Büchern und im Internet gelesen habe. Informationen gibt es zuhauf, es war nicht schwer dranzukommen, aber so ähnlich wie beim Zwiebelschälen, eine dünne und durchsichtige Schicht nach der anderen, und nie stößt man zu einem Kern vor. Ich habe viele Berichte über Folterungen und Morde gelesen, sie sind ausführlich dokumentiert, aber ich muss dorthin, wo all das geschehen ist, wenn ich Manuel verstehen will. Hoffentlich helfen mir die Kontakte von Pater Lyon weiter.
    Mit Manuel und mit anderen darüber zu reden ist schwierig; die Chilenen sind vorsichtig, wollen niemandem zu nahe treten und sagen ungern offen ihre Meinung, ihre Sprache ist ein Tanz der Euphemismen, die Zurückhaltung zur eingefleischten Gewohnheit geworden, und unter der Oberfläche schlummert eine Menge Groll, den niemand wecken will; fast könnte man meinen, dass sich alle irgendwie schämen,

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