Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
die einen, weil sie gelitten, andere, weil sie sich bereichert haben, die einen, weil sie gegangen, andere, weil sie geblieben sind, die einen, weil sie Angehörige verloren, andere, weil sie weggeschaut haben. Wieso hat meine Nini nie etwas davon erzählt? Sie hat Spanisch mit mirgeredet, als ich klein war, auch wenn ich ihr auf Englisch geantwortet habe, hat mich ins Chilenische Kulturzentrum in Berkeley mitgenommen, wo die Lateinamerikaner sich treffen, um Musik zu hören, Theaterstücke oder Filme zu sehen, und hat mich Gedichte von Pablo Neruda auswendig lernen lassen, die ich nicht richtig verstand. Durch sie kannte ich Chile schon, ehe ich einen Fuß hierher setzte; sie erzählte mir von schroffen schneebedeckten Bergen, von schlafenden Vulkanen, die manchmal aus ihren Träumen auffahren, dass man meint, die Welt gehe unter, von der langen Pazifikküste mit ihren krausen Wellen und dem weißen Kragen aus Gischt, von der Wüste im Norden, trocken wie der Mond, doch ab und an ein Blütenmeer wie auf einem Gemälde von Monet, von den kühlen Wäldern, den klaren Seen, von sprudelnden Flüssen und blauen Gletschern. Meine Großmutter sprach von Chile im Tonfall einer Verliebten, aber nicht ein Wort sagte sie über die Menschen und ihre Geschichte, als sei das Land unberührt, unbewohnt, erst gestern von der Erde mit einem Seufzen geboren und jetzt unwandelbar. Traf sie auf Landsleute, redete sie schneller, ihre Sprachmelodie veränderte sich, und ich konnte der Unterhaltung nicht mehr folgen. Viele Einwanderer leben mit dem Blick zurück auf das ferne Land, das sie verlassen haben, aber meine Nini machte nie Anstalten, Chile zu besuchen. Sie hat einen Bruder in Deutschland, von dem sie sporadisch hört, ihre Eltern leben nicht mehr, und vom vielbeschworenen chilenischen Leben im Familienclan kann bei ihr keine Rede sein. »Ich habe dort niemanden mehr, warum sollte ich also hin?«, hat sie einmal zu mir gesagt. Ich werde warten müssen, bis wir uns sehen und ich sie von Angesicht zu Angesicht fragen kann, was mit ihrem ersten Ehemann geschah und warum sie nach Kanada gegangen ist.
FRÜHLING
September, Oktober, November und ein dramatischer Dezember
Die Insel ist heiter, denn die Eltern der Kinder sind angereist, um die Nationalfeiertage und den beginnenden Frühling hier zu begehen; der Winterregen, den ich erst poetisch fand, war irgendwann nicht mehr auszuhalten. Und ich feiere am 25. Geburtstag – ich bin Waage –, werde zwanzig und bin damit endlich kein Teenager mehr. Jesses, welche Erleichterung! Übers Jahr kamen an den Wochenenden immer mal wieder jüngere Leute, um ihre Familien zu besuchen, aber jetzt im September sind sie in großer Zahl hier, und alle Boote legten beladen an. Sie haben Geschenke für die Kinder dabei, die sie manchmal seit Monaten nicht gesehen haben, und Geld für die Großeltern, für neue Kleider oder Dinge für den Haushalt oder für ein neues Dach, wenn das alte den Winter nicht überstanden hat. Unter den Besuchern war auch Lucía Corrales, die Mutter von Juanito, eine sympathische Frau, gutaussehend und eigentlich zu jung, um einen elfjährigen Sohn zu haben. Sie berichtete, dass Azucena Arbeit als Putzfrau in einer Pension in Quellón gefunden hat, nicht mehr zur Schule gehen will und nicht vorhat, zurück auf unsere Insel zu kommen, weil sie sich den gehässigen Bemerkungen der Leute nicht aussetzen will. »Bei Vergewaltigungen wird oft den Opfern die Schuld gegeben«, sagte Blanca und bestätigte damit, was ich in der »Taverne zum lieben Toten« gehört habe.
Juanito ist seiner Mutter gegenüber zurückhaltend und vorsichtig, er kennt sie nur von Fotos, weil sie ihn in der Obhut von Eduvigis gelassen hat, als er zwei oder drei Monate alt war, und ihn nie besuchte, solange Carmelo Corrales noch gelebt hat, auch wenn sie oft mit ihm telefoniert hatund von jeher für seinen Lebensunterhalt sorgt. Der Junge hat mir häufig von ihr erzählt, war einerseits stolz, weil sie ihm gute Geschenke schickt, andererseits zornig, weil sie ihn bei den Großeltern gelassen hat. Mit geröteten Wangen und zu Boden gesenktem Blick stellte er sie mir vor: »Das ist die Lucía, die Tochter von meiner Großmutter.« Später erzählte ich ihm davon, dass meine Mutter weggegangen ist, als ich noch ganz klein war, und ich auch bei meinen Großeltern aufgewachsen bin, aber viel Glück hatte, eine unbeschwerte Kindheit, die ich gegen keine andere tauschen wollte. Er sah mich lange aus seinen
Weitere Kostenlose Bücher