Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Armen gehören. Als ich alt genug war, gewisse Zeichen zu deuten, erriet ich, dass der Ire in meine Nini verliebt ist, obwohl er zwölf Jahre jünger ist als sie und sie meinem Pop nie leichtfertig untreu geworden wäre. Was die beiden miteinanderhaben, ist die platonische Liebe aus einem viktorianischen Roman.
Mike O’Kelly wurde bekannt durch einen Dokumentarfilm über sein Leben. Er bekam zwei Kugeln in den Rücken, als er versuchte, einen Jungen aus einer Gang zu schützen, und sitzt seither im Rollstuhl, was ihn aber nicht davon abhält, seine Mission fortzuführen. Ein paar Schritte kann er mit dem Rollator gehen, und er fährt ein umgerüstetes Auto; damit kurvt er zur Rettung gefährdeter Seelen durch die übelsten Viertel, und wenn in Berkeley und Umgebung zu irgendwelchen Protesten aufgerufen wird, ist er stets als Erster zur Stelle. Mit jedem neuen, traumtänzerischen Ziel, dem die beiden sich verschreiben, wird die Freundschaft zwischen ihm und meiner Nini enger. Es war ihre Idee, dass die Restaurants von Berkeley das Essen, das bei ihnen übrig blieb, den Bettlern, Spinnern und Junkies der Stadt spenden könnten. Meine Nini besorgte einen Wohnwagen, um diese Spenden zu verteilen, und Mike O’Kelly rekrutierte Freiwillige für die Essensausgabe. In den Fernsehnachrichten sah man die Bedürftigen zwischen Sushi, Hähnchencurry, Ente mit Trüffeln und verschiedenen vegetarischen Gerichten wählen. Mehr als einer bemäkelte die Qualität des Kaffees. Es dauerte nicht lange, da mischten sich Bessersituierte unter die Wartenden und wollten essen, ohne zu zahlen, es kam zu Gerangel zwischen der ursprünglichen Klientel und den Abstaubern, und O’Kelly musste seine Jungs holen, um für Ordnung zu sorgen, ehe die Polizei das tat. Am Ende wurde die Verteilung der Essensüberschüsse von der Gesundheitsbehörde verboten, weil ein Allergiker an einer thailändischen Erdnuss-Soße fast hopsgegangen wäre.
Der Ire traf sich oft mit meiner Nini zu Tee und Gebäck und der Analyse verzwickter Mordfälle. »Meinst du, man kann eine zerlegte Leiche in Rohrreinigerflüssigkeit auflösen?«, war eine typische O’Kelly-Frage. »Kommt auf die Größe der Stücke an«, antwortete meine Nini, und dannstarteten die beiden eine Versuchsreihe, bei der sie ein Kilo Kotelett in Drano-Rohrreiniger einlegten, und ließen mich die Ergebnisse notieren.
»Kein Wunder, dass die beiden sich verschworen haben, damit ich von allem abgeschnitten am Ende der Welt sitze«, sagte ich zu Manuel.
»Wenn es stimmt, was du erzählst, muss man sich vor den beiden mehr fürchten als vor deinen mutmaßlichen Feinden, Maya.«
»Unterschätz meine Feinde nicht, Manuel.«
»Hat dein Großvater auch Koteletts in Rohrreiniger eingeweicht?«
»Nein, für Verbrechen hatte der nichts übrig, nur für Sterne und Musik. Er gehörte zur dritten Generation einer Familie von Klassik- und Jazzliebhabern.«
Ich erzählte ihm, dass mein Großvater mir, kaum hatte ich laufen gelernt, das Tanzen beibrachte und mir ein Klavier kaufte, als ich fünf war, weil meine Nini es gern gesehen hätte, wenn ich ein Wunderkind gewesen wäre und an Wettbewerben im Fernsehen teilgenommen hätte. Meine Großeltern ertrugen mein schräges Tastengeklimper, bis die Lehrerin meinte, ich könne meinen Eifer ertragreicher in etwas investieren, wofür man kein gutes Gehör brauche. Ich entschied mich sofort für Fußball, in den Augen meiner Nini eine Beschäftigung für Deppen, bei der elf ausgewachsene Männer in kurzen Hosen um einen Ball streiten. Mein Pop wusste nichts über Fußball, der ist in den USA ja nicht populär, wandte sich aber ohne Zögern vom Baseball ab, obwohl er Fan war, um sich Hunderte von Mädchenfußballspielen anzutun. Über Kollegen von der Sternwarte in São Paulo besorgte er mir eine echte Autogrammkarte von Pelé. Meine Nini wiederum wollte unbedingt, dass ich las und schrieb wie eine Erwachsene, wenn mir schon zum musikalischen Wunderkind das Zeug fehlte. Sie ließ mir einen Bibliotheksausweis ausstellen, und ich musste Absätzeaus klassischen Werken abschreiben und bekam eins hinter die Löffel, wenn sie einen Rechtschreibfehler fand oder ich in Englisch oder Literatur, den beiden einzigen Fächern, die sie interessierten, mittelmäßige Noten nach Hause brachte.
»Meine Nini ist immer grob gewesen, Manuel, aber mein Pop war die reine Sanftmut, die Sonne meines Lebens. Als Marta Otter mich zu meinen Großeltern brachte, hat er mich sehr vorsichtig
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