Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
den roten Sternen zu unterscheiden, konnte Galaxienhaufen und die noch größeren Galaxiensuperhaufen erkennen, von denen es Millionen gibt. Er erklärte mir, dass unsere Sonne ein kleiner Stern ist zwischen Milliarden anderen in unserer Milchstraße und dass es gewiss noch Millionen andere Galaxien gibt außer denen, die wir heute beobachten können. »Dann sind wir ja nicht mal ein Flohseufzer, Pop«, lautete meine logische Schlussfolgerung. »Ist es nicht phantastisch, Maya, dass ein Flohseufzer das Wunder des Weltraums erfassen kann? Ein Astronom braucht mehr poetisches Vorstellungsvermögen als praktische Vernunft, denn das Universum ist so gewaltig und vielgestaltig, es lässt sich weder ermessen noch erklären, man kann es nur erspüren.« Er erzählte mir, wie Gase und Sternenstaub wundervolle Nebel bilden, wahre Kunstwerke, berückende Zeichnungen in überwältigenden Farben am Firmament, erzählte, wie Sterne geboren werden und sterben, von Schwarzen Löchern, von Raum und Zeit,vom Urknall, mit dem wahrscheinlich alles begonnen hat, und von den winzigen Teilchen, aus denen die ersten Protonen und Neutronen entstanden und dann in immer komplexeren Prozessen die Galaxien, die Planeten, das Leben. »Wir kommen von den Sternen«, sagte er oft zu mir. »Meine Rede«, sagte meine Nini und dachte an ihr Horoskop.
Nach dem Besuch auf dem Turm mit seinem zauberischen Teleskop rührte mir mein Großvater ein Glas warme Milch mit Zimt und Honig an, der Zaubertrank des Astronomen zur Förderung der Eingebung, passte auf, dass ich mir danach die Zähne putzte, und brachte mich ins Bett. Dann kam meine Nini und erzählte mir eine Geschichte, jeden Abend eine andere, die sie aus dem Stegreif erfand und die ich durch Nachfragen möglichst in die Länge zu ziehen versuchte, doch unvermeidlich kam der Moment, wo ich allein blieb, und dann zählte ich Schafe, starrte auf das Schaukeln des geflügelten Drachen über meinem Bett, horchte auf das Knarren der Dielen, auf das Trippeln und zurückhaltende Murmeln der unsichtbaren Bewohner dieses verwunschenen Hauses. Der Kampf gegen meine Angst war reine Spiegelfechterei, denn kaum dass meine Großeltern schliefen, schlüpfte ich in ihr Zimmer, tastete mich im Dunkeln zum Bett, zerrte meinen Schlafsack in eine Ecke und schlief in Frieden. Über Jahre trafen sich meine Großeltern zu unziemlichen Uhrzeiten im Hotel, um sich ungestört zu lieben. Erst jetzt als Erwachsene wird mir allmählich klar, welche Opfer sie für mich brachten.
Manuel und ich dechiffrierten die Nachricht, die O’Kelly geschickt hatte. Gute Neuigkeiten: Zu Hause war alles normal, von meinen Verfolgern kein Mucks, was allerdings nicht hieß, dass sie mich vergessen hatten. Sicherheitshalber hatte der Ire das nicht offen geschrieben, sondern einen Code benutzt wie die Japaner im Zweiten Weltkrieg, den er mir einmal beigebracht hatte.
Ich bin seit einem Monat auf der Insel. Ob ich mich je an das Schneckentempo von Chiloé gewöhnen werde? An diese Trägheit, den ständig drohenden Regen, den immer gleichen Anblick von Wasser und Wolken und grünen Wiesen? Alles ist einerlei, alle haben die Ruhe weg. Die Chiloten kennen keine Pünktlichkeit, jedes Vorhaben hängt von Wetter und Laune ab, alles geschieht, wenn es geschieht, warum heute besorgen, was sich auch morgen tun lässt. Manuel lacht über meine To-do-Listen und Pläne, die keinen Sinn haben, wo Zeit keine Rolle spielt, ob eine Stunde oder eine Woche, das ist hier alles einerlei; er selbst hält seine Arbeitszeiten allerdings ein und kommt mit seinem Buch voran, wie er es sich vorgenommen hat.
Chiloé besitzt seine eigene Stimme. Früher nahm ich die Kopfhörer nie von den Ohren, die Musik war wie Luft zum Atmen für mich, aber jetzt lausche ich auf das schwer entwirrbare Spanisch der Leute. Juanito Corrales hat meinen iPod wieder in die Rucksacktasche gesteckt, wir haben kein Wort darüber verloren, und in der Woche ohne ihn habe ich gemerkt, dass er mir nicht so sehr fehlt, wie ich dachte. Ohne den iPod kann ich die Stimmen der Insel hören: Vögel, Wind, Regen, das Knistern von Brennholz, das Rumpeln der Karren und manchmal die fernen Geigenklänge von Bord der Caleuche, eines Geisterschiffs, das im Nebel kreuzt, an seiner Musik zu erkennen ist und an dem Knochenklappern der Schiffbrüchigen, die an Deck singen und tanzen. Das Schiff wird von dem Delfin Cahuilla begleitet, nach dem Manuel sein Boot benannt hat.
Manchmal würde ich gern einen Schluck
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