Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
in die Arme genommen, weil er noch nie zuvor ein Neugeborenes gehalten hatte. Angeblich hat ihn die Zuneigung für mich überwältigt. So hat er es mir erzählt, und ich habe nie an dieser Liebe gezweifelt.«
Wenn ich anfange, von meinem Pop zu reden, gibt es kein Halten mehr. Ich habe Manuel erzählt, dass ich meiner Nini meine Liebe zu den Büchern verdanke und meinen nicht zu verachtenden Wortschatz, meinem Großvater jedoch alles andere. Meine Nini zwang mich zum Lernen, sie sagte so entzückende Sachen wie: »Wer nicht hören will, muss fühlen«, aber mit meinem Pop wurde das Lernen zum Spiel. Wir schlugen das Wörterbuch an einer beliebigen Stelle auf, zeigten blind mit dem Finger auf ein Wort und versuchten die Bedeutung zu erraten. Oder wir spielten das Spiel der blöden Fragen: Warum fällt der Regen nach unten, Pop? Fiele er nach oben, würde deine Unterhose nass, Maya. Wieso ist Glas durchsichtig? Damit die Fliegen nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. Wieso sind deine Hände oben dunkel und unten rosa? Weil die Farbe alle war. Und so weiter, bis meine Großmutter die Nerven verlor und aufjaulte.
Mein Pop war immer für mich da, füllte meine Kindertage mit seinem hintergründigen Humor, seiner Gutmütigkeit, seinem unverdorbenen Blick, er wiegte mich auf seinem Bauch, war zärtlich zu mir. Sein Lachen war dröhnend, schien aus den Tiefen der Erde und durch seine Füße hinaufzusteigen und schüttelte ihn am ganzen Leib. »Pop, versprich mir, dass du nie stirbst«, verlangte ich mindestenseinmal in der Woche und bekam unverändert zur Antwort: »Ich verspreche, dass ich immer bei dir bin.« Er richtete es so ein, dass er früh genug aus der Universität kam, um noch ein bisschen mit mir zu spielen, ehe er sich zu seinen dicken Astronomiebüchern und den Sternkarten ins Arbeitszimmer setzte, seinen Unterricht vorbereitete, Klausuren korrigierte, forschte, schrieb. Studenten und Kollegen kamen zu Besuch, und sie saßen zusammen und diskutierten hochfliegende und fragwürdige Ideen, bis meine Nini sie, wenn der Morgen graute, im Nachthemd mit einer großen Thermoskanne Kaffee unterbrach. »Deine Aura verblasst, mein Lieber. Hast du vergessen, dass du um acht zur Uni musst?« Und sie schenkte Kaffee aus und schob die Besucher dann aus der Tür. Die maßgebliche Farbe in der Aura meines Großvaters sei Violett, behauptete meine Nini, was sehr gut zu ihm passe, weil es die Farbe der Empfindsamkeit sei, der Weisheit, Intuition, psychischen Kraft und des Blicks in die Zukunft. Ins Arbeitszimmer kam meine Nini sonst nie; mir dagegen stand die Tür immer offen, und ich hatte sogar meinen eigenen Stuhl an einer Seite des Schreibtischs, wo ich, begleitet von leisen Jazzklängen und dem Duft von Pops Pfeife, meine Hausaufgaben machen konnte.
Mein Pop war der Ansicht, das bestehende Schulsystem lähme die Entwicklung des Denkvermögens; man müsse seine Lehrer respektvoll behandeln, dürfe aber nicht weiter auf sie hören. Da Vinci, Galileo, Einstein und Darwin, um nur vier der größten Denker des Westens zu nennen, denn es gab ja noch viele andere, etwa die arabischen Philosophen und Mathematiker Avicenna und Al-Chwarizmi, hätten das Wissen ihrer Zeit in Frage gestellt. Wären sie dem Unsinn gefolgt, den die Alten sie lehrten, sie hätten weder etwas erfunden noch etwas entdeckt. »Deine Enkelin ist kein zweiter Avicenna, und wenn sie nicht lernt, muss sie ihr Geld später mit Hamburgerbraten verdienen«, hielt meine Nini ihm vor. Aber ich hatte andere Pläne, ich wollteFußballprofi werden, die verdienten Millionen. »Die Männer, dummes Huhn. Kannst du mir eine Frau nennen, die damit Millionen verdient?«, führte meine Großmutter ins Feld und hob dann zu einer Schmährede an, die auf feministischem Terrain entsprang, einen Umweg über Fragen der sozialen Gerechtigkeit nahm und in dem Schluss mündete, ich würde vom Fußballspielen stark behaarte Beine bekommen. Hinterher nahm mich mein Großvater beiseite und erklärte mir, dass Körperbehaarung nichts mit Sport, sondern mit der genetischen Veranlagung und den Hormonen zu tun hat.
Während meiner ersten Jahre schlief ich im Zimmer meiner Großeltern, erst zwischen den beiden in ihrem Bett und später in einem Schlafsack, den wir unter dem Bett aufbewahrten, wobei wir vorgaben, von seiner Existenz nichts zu wissen. Am Abend stieg mein Pop mit mir auf den Turm, um das unendliche, mit Sternen übersäte Weltall zu betrachten, ich lernte, die blauen von
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