Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
diesem Haus voller Fledermäuse bin!
Das Alter scheint mir wie die Wolken nicht scharf umrissen und wechselhaft. Manchmal sieht man Manuel die Jahre an, die er auf dem Buckel hat, dann wieder kann ich, je nachdem, wie das Licht und sein Gemütszustand sind, den jungen Mann erkennen, der nach wie vor in seiner Haut steckt. Wenn er sich im kalten bläulichen Bildschirmlicht über die Tastatur beugt, wirkt er sehr betagt, am Steuer seines Bootes dagegen wie fünfzig. Als ich herkam, sah ich seine Falten, die Tränensäcke und rotgeränderten Augen, die Adern auf seinen Händen, die Flecken auf seinen Zähnen, die Knochen in seinem Gesicht, wie mit dem Meißel herausgehauen, die müde Geste, wenn er seine Brille abnimmt und sich die Liderreibt, und ich hörte, wie er morgens hustete und sich räusperte, aber all das fällt mir inzwischen weniger auf als seine unaufdringliche Männlichkeit. Er ist attraktiv. Blanca würde mir sicher recht geben, jedenfalls sieht sie ihn so an. Himmel, ich habe gerade geschrieben, dass Manuel attraktiv ist! Er ist älter als die Pyramiden! Ich muss mir in Las Vegas das Hirn weggeballert haben, anders ist das nicht zu erklären.
Meine Nini sagt, an Frauen seien die Hüften besonders sexy, weil man an denen die Gebärfähigkeit erkennt, und bei Männern die Arme, weil die zeigen, ob einer arbeiten kann. Keine Ahnung, wo sie diese Theorie ausgegraben hat, aber ich muss sagen, Manuels Arme sind wirklich sexy. Nicht so muskulös wie bei einem jungen Mann, aber stark, mit kräftigen Handgelenken und großen Händen, wie man sie bei einem Schriftsteller nicht erwarten würde, eher bei einem Seemann oder Bauarbeiter, mit rissiger Haut und Nägeln, die schwarz sind von Motoröl, Diesel, Brennholz, Erde. Diese Hände schneiden Tomaten und Koriander und häuten sehr sorgsam einen Fisch. Ich kann ihn nur verstohlen betrachten, weil er mich etwas auf Abstand hält, wahrscheinlich hat er Angst vor mir, aber von hinten habe ich ihn gründlich studiert. Ich würde gern sein drahtiges Haar anfassen und meine Nase in dieser Mulde vergraben, die er, wie wir alle vermutlich, dort hat, wo sein Nacken entspringt. Wie er wohl riecht? Er raucht nicht und benutzt kein Rasierwasser wie mein Pop, den ich immer zuerst am Duft wahrnehme, wenn er mich besucht. Manuels Kleider riechen wie meine und wie alles hier im Haus: nach Wolle, Holz, Katzen, Rauch aus dem Ofen.
Wenn ich von Manuel etwas über seine Vergangenheit oder seine Gefühle erfahren will, wehrt er ab, aber Tía Blanca hat mir ein bisschen erzählt, und über anderes bin ich gestolpert, als ich Unterlagen in seinen Ordnern abgeheftet habe. Er ist nicht nur Anthropologe, sondern auch Soziologe, wobei mir der Unterschied nicht ganz klar ist,aber vielleicht ist das der Grund, warum er sich so für die Kultur der Menschen von Chiloé interessiert. Seine Begeisterung ist ansteckend. Ich arbeite gern mit ihm, reise gern mit ihm zu anderen Inseln, lebe gern in seinem Haus und gern mit ihm zusammen. Ich lerne viel; als ich nach Chiloé kam, war mein Kopf hohl und leer, aber in der kurzen Zeit hier ist schon einiges hineingekommen.
Von Blanca Schnake lerne ich auch eine Menge. Ihr Wort ist hier auf der Insel Gesetz, sie hat mehr zu sagen als die beiden Polizisten von der Wache. Als Kind war sie bei den Nonnen im Internat, danach hat sie eine Weile in Europa gelebt und Pädagogik studiert, sie ist geschieden und hat zwei Töchter, eine lebt in Santiago und die andere mit Mann und zwei Kindern in Florida. Auf den Fotos, die sie mir gezeigt hat, sehen ihre Töchter aus wie Mannequins und ihre Enkelkinder wie Engelchen. Blanca hat eine Oberschule in Santiago geleitet und vor einigen Jahren um ihre Versetzung nach Chiloé gebeten, weil sie in der Nähe ihres Vaters in Castro sein wollte, hat aber nur den Posten auf diesem unbedeutenden Eiland bekommen. Eduvigis sagt, Blanca hatte Brustkrebs und ist von einer Machi geheilt worden, aber Manuel hat mich aufgeklärt, dass man ihr erst beide Brüste entfernt und sie eine Chemotherapie gemacht hat; vorerst ist der Krebs weg. Sie wohnt hinter der Schule, im besten Haus im Dorf, frisch renoviert und vergrößert, ein Geschenk ihres Vaters, der es aus der Portokasse bezahlt hat. Am Wochenende fährt sie ihn immer besuchen.
Don Lionel Schnake gilt in Chiloé als bedeutende Persönlichkeit und wird sehr geliebt, weil er anscheinend grenzenlos spendabel ist. »Je mehr mein Vater verschenkt, desto besser laufen seine Geschäfte,
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