Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
durch.
Nachmittags jogge ich nach meiner Arbeit für Manuel ins Dorf; die Leute gucken ein bisschen, und mehr als einmal bin ich schon gefragt worden, wohin ich so eilig will. Ich muss was tun, oder ich werde kugelrund, beim Essenhole ich alles nach, was ich im letzten Jahr ausgelassen habe. Das Essen hier hat viel zu viele Kohlenhydrate, trotzdem ist niemand fettleibig, was an der körperlichen Betätigung liegen muss, man ist hier viel in Bewegung. Azucena Corrales ist für ihre dreizehn Jahre ein bisschen pummelig, will aber nicht mit mir laufen, weil sie meint, es sei ihr peinlich, »was die Leute sagen«. Sie ist ziemlich einsam hier, Gleichaltrige gibt es kaum, bloß ein paar Jungs, die zum Fischen rausfahren, ein halbes Dutzend gelangweilter Kiffer und den Jungen vom Internetcafé mit dem löslichen Kaffee und der launischen Internetverbindung, in das ich so wenig wie möglich gehe, um nicht in Versuchung zu geraten und E-Mails zu schreiben. Doña Lucinda und ich sind die Einzigen auf der Insel, die ohne Kontakt zur Außenwelt leben, sie wegen ihres hohen Alters und ich, weil ich auf der Flucht bin. Alle anderen im Dorf haben ein Handy und nutzen die Computer im Internetcafé.
Ich langweile mich nicht. Was mich überrascht, weil ich mich früher sogar bei Action-Filmen gelangweilt habe. Ich habe mich an die leeren Stunden gewöhnt, an die langen Tage, ans Nichtstun. Ich brauche sehr wenig zum Zeitvertreib, habe meine Arbeitsroutine mit Manuel, die Schundromane von Tía Blanca, bekomme Besuch von den Nachbarn und den Kindern, die unbeaufsichtigt im Pulk umherziehen. Am liebsten mag ich Juanito, der aussieht wie eine Puppe: ein schmächtiger Jungenkörper, ein großer Kopf und schwarze Augen, die alles sehen. Man hält ihn für dumm, weil er kaum redet, dabei ist er sehr klug; er hat bloß früh gemerkt, dass es keinen interessiert, was man sagt, deshalb sagt er nichts. Ich spiele mit den Jungs Fußball, aber die Mädchen konnte ich bislang nicht begeistern, was daran liegt, dass die Jungs nicht mit ihnen spielen wollen, aber auch daran, dass man hier noch nie eine Frauenfußballmannschaft gesehen hat. Wenn es nach Tía Blanca und mir geht, dann wird sich das ändern, wir kümmern unsdarum, sobald im März die Schule wieder losgeht und die Kinder uns nicht entwischen können.
Die Türen der Dorfbewohner stehen mir offen, also im übertragenen Sinn, de facto stehen ihre Türen sowieso offen. Mein Spanisch ist viel besser geworden, ich kann mich jetzt unterhalten, wenn auch noch etwas holprig. Der Dialekt hier ist nicht leicht zu verstehen, und es kommen Wörter und grammatikalische Wendungen vor, die man in keinem geschriebenen Text findet und die sich laut Manuel aus einem altertümlichen Spanisch erhalten haben, weil Chiloé lange Zeit vom Rest des Landes abgeschnitten war. Chile wurde im Jahr 1810 unabhängig von Spanien, Chiloé aber erst sechzehn Jahre später, es war das letzte spanische Territorium im Süden des Kontinents.
Manuel hatte mich gewarnt, die Leute hier seien schwer zugänglich, aber ich habe sie anders erlebt: Zu mir sind sie sehr freundlich. Sie bitten mich herein, wir sitzen zusammen am Ofen, plaudern und trinken Mate, einen bitteren grünen Kräutertee, der in kleinen Kalebassen immer frisch aufgegossen und herumgereicht wird, wobei alle denselben Trinkhalm benutzen. Sie erzählen mir von ihren Krankheiten und von den Krankheiten ihrer Pflanzen, die vom Neid der Nachbarn verursacht sein können. Zwischen einigen Familien herrscht Streit, weil geraunt oder vermutet wird, die einen hätten bei den anderen etwas verhext; mir ist unbegreiflich, wie man hier dauerhaft miteinander im Clinch liegen kann, wir leben ja mit nur ungefähr dreihundert Leuten auf engem Raum wie die Hühner im Stall. Es lässt sich nichts geheim halten, das Dorf ist wie eine große Familie mit ihren Verwerfungen, ihrem Groll und der Notwendigkeit, zusammenzuleben und einander beizustehen, wenn es sein muss.
Wir reden über Kartoffeln – es gibt endlos viele Sorten oder »Qualitäten«, rote, violette, schwarze, weiße, gelbe,runde, längliche und so weiter – und darüber, dass man sie bei abnehmendem Mond setzt und nie an einem Sonntag, dass man Gott dankt, wenn man die erste setzt und die erste erntet, und dass man sie besingt, während sie in der Erde schlummern. Doña Lucinda, die nach allgemeiner Berechnung hundertneun sein muss, ist eine von den Sängerinnen, die Liebeslieder auf die Kartoffel singt:
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