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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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mehr, daß ich in meinem eigenen Zimmer liege. Das werde ich allerdings auch bald nicht mehr tun, da ich dann auf ganztägige Pflege angewiesen bin. Ich litte an vaskulärer Demenz, erklärte der Arzt, doch könne er mir auch etwas Tröstliches mitteilen. Da sei zum einen der langsame Verlauf, den er Dutzende Male erwähnte. Zum anderen sei vaskuläre Demenz nicht so schlimm wie Alzheimer mit seinen Aggressionen und Stimmungsschwankungen. Wenn ich Glück hätte, verliefe die Krankheit sogar halbwegs gnädig. Vermutlich würde ich mich nicht mal allzu unglücklich fühlen – ein altes München eben, das im Rollstuhl vor sich hin dämmert und nichts weiß, nichts erwartet. Ich hatte ihn gebeten, völlig offen zu sein, ich konnte mich also nicht beklagen. Dann aber hatte er es plötzlich eilig, mich zu verabschieden. Im Wartezimmer saßen zwölf Leute, die auch noch an die Reihe kommen wollten. Während er mir in den Mantel half, skizzierte er zusammenfassend noch einmal den Weg, der vor mir lag: Gedächtnisverlust, Kurzzeit- wie Langzeitgedächtnis, den Verlust einzelner Worte – einfache Substantive dürften als erste verschwinden –, anschließend würde ich die Sprache selbst verlieren, zusammen mit dem Gleichgewichtssinn, danach jegliche Körperkontrolle, und zum Schluß dann der Zusammenbruch des vegetativen Nervensystems. Bon voyage!
Ich war nicht verzweifelt, anfangs jedenfalls nicht. Im Gegenteil, ich war wie berauscht und wollte unbedingt meinen engsten Freunden alles erzählen. Eine Stunde hing ich am Telefon und teilte ihnen meine Neuigkeiten mit. Vielleicht verlor ich schon langsam meine Selbstbeherrschung. Es kam mir so ungeheuerlich vor. Den ganzen Nachmittag machte ich mich dann in meinem Arbeitszimmer zu schaffen und räumte auf. Als ich fertig war, standen sechs Aktenschuber auf den Regalen. Abends kamen Stella und John vorbei, und wir ließen uns vom Chinesen etwas zu essen bringen. Zu zweit tranken sie zwei Flaschen Morgen. Ich selbst nahm mit grünem Tee vorlieb. Niedergeschlagen hörten sich meine bezaubernden Freunde die Beschreibung meiner Zukunft an. Sie sind beide um die Sechzig, alt genug also, um sich einzureden, daß siebenundsiebzig noch kein Alter sei. Im Taxi heute, als ich bei eisigem Regen im Schrittempo durch London rollte, dachte ich an kaum etwas anderes. Ich werde verrückt, sagte ich mir. Laß mich nicht verrückt werden. Ich konnte es kaum glauben. Vielleicht war ich bloß ein Opfer moderner Diagnostik; in einem anderen Jahrhundert hätte man über mich gesagt, daß ich alt werde und den Verstand verliere. Was wollte ich anderes erwarten? Ich sterbe doch nur, sinke langsam hinab ins Vergessen.
Mein Taxi schlängelte sich durch die Nebenstraßen von Bloomsbury, vorbei an dem Haus, in dem mein Vater mit seiner zweiten Ehefrau gelebt hat, und vorbei an der Parterrewohnung, die in den fünfziger Jahren mein Zuhause und mein Arbeitsplatz gewesen war. In einem gewissen Alter wecken Fahrten durch die Stadt unbequeme Erinnerungen. Die Adressen der Toten häufen sich. Wir überquerten den Platz, an dem Leon gewohnt und so aufopferungsvoll seine Frau gepflegt hatte, um später dann seine Rasselbande mit einer Hingabe aufzuziehen, über die wir uns alle nur wundern konnten. Eines Tages werde auch ich bei den Insassen eines vorbeifahrenden Taxis einen Augenblick des Nachdenkens auslösen. Der Inner Circle vom Regent’s Park ist eine beliebte Abkürzung.
Wir fuhren auf der Waterloo Bridge über die Themse. Ich rückte auf meinem Sitz ganz nach vorn, um meinen Lieblingsblick auf die Stadt zu genießen, und als ich mich umwandte, flußabwärts sah, hinüber zu St. Paul’s, flußaufwärts zum Big Ben – dazwischen die ganze Palette des touristischen Londons –, da fühlte ich mich körperlich wohl und geistig fit, von gelegentlichen Kopfschmerzen und einer gewissen Müdigkeit einmal abgesehen. Ich finde, daß ich, auch wenn ich noch so ergraut sein mag, immer noch genau derselbe Mensch bin, der ich immer war. Den Jüngeren läßt sich das kaum erklären. Wir mögen wahre Tattergreise sein, gehören aber dennoch derselben Spezies an. In den nächsten ein, zwei Jahren aber werde ich den Anspruch auf diese liebgewordene Beteuerung verlieren. Die ernsthaft Kranken, die Geistesgestörten, sie gehören zu einer anderen, einer minderwertigen Spezies. Und davon kann mich niemand abbringen.
Mein Taxifahrer fluchte. Auf der anderen Flußseite zwangen uns Straßenarbeiten zu einem Umweg in Richtung

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