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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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dieser fanatischen Gruppe alter Weiber, deren Lebenssinn es war durchzusetzen, daß wir in Kolchis in jeder winzigsten Einzelheit so leben sollten wie unsere Vorfahren. Wir nahmen sie nicht ernst, das war ein Fehler, auf einmal stellte sich in Kolchis eine Kräfteverteilung her, die diesen Weibern günstig war, so daß sie ihre Stunde für gekommen hielten und, entzückt von der neuerlichen Anwendung der alten Gesetze durch den König, nun auch alle vorgeschriebenen Konsequenzen vollzogen sehen wollten; denn nur einer konnte überleben, der König oder sein Stellvertreter, und als es Mitternacht war, dein Tag als König, Bruder, beendet, da sind sie, durch einen Eingang, der in jener Nacht merkwürdigerweise nicht bewacht wurde, was sie merkwürdigerweise wußten, in deine Gemächer eingedrungen, wo sie dich ungeschützt im Bad finden und unter Absingen ihrer schauerlichen Gesänge töten konnten. So ist es Brauch gewesen in den alten Zeiten, auf die auch wir uns ja berufen hatten, weil wir uns einen Vorteil davon versprachen. Und seitdem ist mir ein Schauder geblieben vor diesen alten Zeiten und vor den Kräften, die sie in uns freisetzen und derer wir dann nicht mehr Herr werden können. Irgendwann muß aus diesem Töten des Stellvertreterkönigs, das alle guthießen, auch er selbst, irgendwann muß daraus Mord geworden sein, und wenn dein furchtbarer Tod mich etwas gelehrt hat, Bruder, dann dies, daß wir nicht nach unserem Belieben mit den Bruchstücken der Vergangenheit verfahren können, sie zusammensetzen oder auseinanderreißen, wie es uns gerade paßt. Dadurch, daß ich das nicht verhinderte, daß ich es noch beförderte,habe ich zu deinem Tod beigetragen. Agameda meinte etwas anderes, als sie es mir neulich vorwarf, und doch wurde ich blaß. Ich werde jedesmal blaß, wenn ich an dich denke, Bruder, und an diesen Tod, der mich aus Kolchis wegtrieb. Agameda hat keine Ahnung. Haß macht blind. Aber warum haßt sie mich. Warum werde ich gehaßt.
    Ob sie mir meinen Unglauben anspüren, meine Glaubenslosigkeit. Ob sie das nicht ertragen. Als ich über den Acker lief, über den sie deine zerstückelten Gliedmaßen gestreut hatten, die wahnsinnigen Weiber, als ich heulend in der einfallenden Dunkelheit über diesen Acker lief und dich einsammelte, armer geschundener Bruder, Stück für Stück, Bein um Bein, da hörte ich auf zu glauben. Wie sollten wir in neuer Gestalt auf diese Erde zurückkommen können. Warum sollten die über das Feld verstreuten Glieder eines toten Mannes dieses Feld fruchtbar machen. Warum sollten die Götter, die andauernd Beweise von Dankbarkeit und Unterwerfung von uns verlangen, uns sterben lassen, um uns dann wieder auf die Erde zurückzuschicken. Dein Tod hat mir die Augen aufgerissen, Absyrtos. Zum erstenmal fand ich Trost darin, daß ich nicht immer leben muß. Da konnte ich diesen aus Angst geborenen Glauben loslassen; richtiger, er stieß mich ab.
    Ich habe noch niemanden getroffen, mit dem ich darüber sprechen könnte. Hier fand ich einen, der glaubt so wenig wie ich: Akamas, aber der steht auf der anderen Seite. Wir wissen viel voneinander. Ich sage ihm, nur mit den Augen, daß ich seine tief eingefressene Gleichgültigkeit durchschaue, die nur seine eigene Person ausläßt, er sagt mir, nur mit den Augen, daß ermeinen tief eingefressenen Zwang, mich in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen, unreif und komisch findet. Und in letzter Zeit gefährlich. Er warnt mich, nur mit den Augen, ich aber stelle mich ahnungslos. Ich will es jetzt wissen.
    Ich bin mit Jason gegangen, weil ich in diesem verlorenen, verdorbenen Kolchis nicht bleiben konnte. Es war eine Flucht. Nun habe ich den gleichen Zug von Anmaßung und Furcht, den unser Vater Aietes zuletzt zeigte, im Gesicht des Königs Kreon von Korinth gesehen. Unser Vater konnte mir nicht in die Augen blicken bei den Totenritualen für dich, seinen geopferten Sohn. Dieser König hier hat keine Gewissensbisse, wenn er seine Macht auf einen Frevel gründet, er sieht jedem frech ins Gesicht. Seit Akamas mich mitgenommen hat, über den Fluß, in die Totenstadt, wo die reichen und angesehenen Korinther in prunkvoll ausgestatteten Grabkammern bestattet werden. Seit ich gesehen habe, was sie ihnen mitgeben, damit sie den Weg ins Totenreich überstehen, wohl auch, damit sie sich den Zutritt erkaufen können, Geld, Schmuck, Nahrung, sogar Pferde, manchmal auch Dienstboten, seitdem kann ich dieses ganze herrliche Korinth nur noch als

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