Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
angebracht, mich mitten auf der Straße zu stellen, obwohl sie doch die Urheber des Gerüchtes gar nicht kennen konnte. Hör mal, Agameda, sagte sie ohne Umschweife, du weißt doch ganz genau, daß ich mit dem Tod von Absyrtos nichts zu tun habe. Da hatte ich eine meiner genialen Eingebungen. Ich sagte: Und du, Medea, solltest wissen, daß eine Schwester ihren Bruder auf verschiedene Weise auf dem Gewissen haben kann.
    Da ist sie bleich geworden, ich habe es gesehen.

4
    Jason zu Medea:
Geh durch die hohen Räume im erhabenen Äther,
bezeuge, daß, wo du fährst, es keine Götter gibt.
    Seneca, ›Medea‹
    Medea
    Absyrtos, Bruder, bist also gar nicht tot, hab dich umsonst Knöchelchen um Knöchelchen aufgelesen auf jenem nächtlichen Acker, auf dem die wahnsinnigen Weiber dich verstreut hatten, armer zerstückelter Bruder. Bist mir nachgekommen, zäh, wie ich dich gar nicht gekannt habe, aber wie habe ich dich denn gekannt, hast deine zerstückelten Glieder wieder zusammengesetzt, am Grunde des Meeres sie wieder versammelt, Bein um Bein, und bist mir gefolgt, als Luftgebilde, als Gerücht. Du wolltest nie mächtig sein, jetzt bist du es. Mächtig genug, mich nachzuholen, in die Lüfte oder auf den Grund des Meeres, das glauben sie jedenfalls, nicht nur Presbon und Agameda, die es so dringlich wünschen, auch Leukon, ich sah die Sorge in seinen Augen. Ich dagegen erschrak kaum, als der Vorläufer des Gerüchts mich streifte, man sagte es mir ja nicht ins Gesicht, man wisperte es hinter meinem Rücken. Ich hörte deinen Namen, seit langem wieder einmal deinen Namen, Bruder, und dann den meinen, und wenn ich mich schnell umdrehte, traf ich auf verschlossene Gesichter, auf gesenkte Blicke. Alle wußten es schon, außer mir, endlich klärte Lyssa mich auf: Ich soll dich, Absyrtos, meinen Bruder, getötet haben. Ich lachte. Lyssa lachte nicht. Ich sah sie an, dann sagte ich, aber du weißt doch, wie es wirklich war. Ich weiß es, sagte Lyssa, und werde es immer wissen. Das hieß, nicht alle würden immer wissen, was sie wußten. Ich verstand noch immer nicht, fühlte sogar etwas wie Erleichterung, daß etwas geschah, daß vielleicht die Langeweile, die sich die Jahreüber in Korinth wie ein trüber Bodensatz in mir abgelagert hatte, noch einmal aufzulösen wäre.
    Korinth und alles, was in ihm geschehen war und geschah, ging mich ja nichts an. Unser Kolchis ist mir wie mein eigener vergrößerter Leib gewesen, an dem ich jede seiner Regungen spürte. Den Niedergang von Kolchis ahnte ich wie eine schleichende Krankheit in mir selbst, Lust und Liebe entwichen, dir habe ich es gesagt, kleiner Bruder, du warst so verständig, so einfühlsam. Wenn wir mit der Mutter zusammenhockten, mit der Schwester Chalkiope, mit Lyssa, und sorgenvoll hin und her wendeten, was mit Kolchis passierte, bist du, ein Kind noch, so hellsichtig gewesen. Nichts hat mich mehr gequält als der Gedanke, du könntest vorausgesehen haben, daß es dir ans Leben gehen würde, als unser Vater, als der König dich und uns mit diesem verfluchten Plan überrumpelte. Als uns nichts einfiel, was wir dagegen vorbringen konnten, außer einem dumpfen Unbehagen. Wir hatten ihn unterschätzt, unser hinfälliger, unfähiger König und Vater hatte jedes Fetzchen Kraft, das noch in ihm war, auf einen Punkt versammelt: sich an der Macht und damit am Leben zu halten. Wir kannten diese Art zu allem entschlossener List nicht. Wir waren blind, Absyrtos.
    Sogar du hattest verstanden, daß die Art, wie Aietes Kolchis regierte, immer mehr Kolcher gegen ihn aufbrachte, auch unsere Mutter, und mich, Priesterin der Hekate, deren Tempel ohne mein Zutun zum Treffpunkt der Unzufriedenen wurde, vor allem der jüngeren Leute, du, kleiner Bruder, immer dabei. Sie stießen sich am Starrsinn des Aietes, an der unnützen Prachtentfaltung des Hofes und verlangten, der König solle dieSchätze des Landes, unser Gold, verwenden, um unserem Handel einen Aufschwung zu geben, das elende Leben unserer Bauern zu erleichtern. Sie wollten, der König und sein Clan sollten sich auf die Pflichten besinnen, die ihnen von alters her in Kolchis zufielen. Ach, Absyrtos! Was wir Unwissende für Pracht hielten! Seit ich in Korinth bin, weiß ich, was Prachtentfaltung ist, an der sich hier aber niemand zu stören scheint, selbst die Armen in den Dörfern und am Stadtrand bekommen entzückte Gesichter, wenn sie von den großen Festen im Palast reden, für die sie ihr Vieh und ihr Getreide abliefern müssen,

Weitere Kostenlose Bücher