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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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das vergängliche Gegenbild zu jener ewigen Totenstadt sehen, und mir scheint, sie regieren auch hier, die Toten. Oder es regiert die Angst vor dem Tod. Und ich frage mich, hätte ich nicht in Kolchis bleiben sollen.
    Aber jetzt holt Kolchis mich ein. Deine Knochen, Bruder, habe ich ins Meer geworfen. In unser Schwarzes Meer, das wir liebten und das du, da bin ich sicher, als dein Grab hättest haben wollen. Im Anblick der Schiffe aus Kolchis, die uns verfolgten, und im Angesichtunseres Vaters Aietes stand ich auf der »Argo« und warf dich stückweis ins Meer. Da ließ Aietes die kolchische Flotte abdrehen, zum letzten Mal sah ich das vertraute Gesicht, versteint vom Schrecken. Auch meinen Argonauten ist dieses Bild in die Glieder gefahren: eine Frau, die unter wilden Schreien die Knochen eines Toten, die sie bei sich trug, gegen den Wind ins Meer wirft. Ich müsse mich nicht wundern, meint Jason, wenn ihnen das Bild jetzt wieder einfällt und sie unsicher macht, was sie denken sollen, so daß sie nicht als Zeugen für mich auftreten wollen. So traut ihr mir zu, habe ich ihn gefragt, daß ich meinen eigenen Bruder getötet, zerstückelt und dann in einem Fellsack mit auf die Reise genommen habe? Er wand sich, mein guter Jason. Er ist mir die Antwort schuldig geblieben.
    All die Jahre über, Bruder, habe ich nicht von dir träumen können. Jetzt sind, mit den Erinnerungen, auch meine Träume erwacht. Nacht für Nacht schäumt die See noch einmal hoch auf, Nacht für Nacht verschlingt sie noch einmal deine Gebeine, Nacht für Nacht vergieße ich endlich die Tränen, die ich dir damals schuldig blieb. Und Nacht für Nacht ertasten meine Fingerspitzen die feinen Knöchelchen, die ich in jener Höhle unter dem Palast fand, den schmalen Schädel, das kindliche Schulterblatt, die zerbrechliche Wirbelsäule. Iphinoe. Sie ist mehr deine Schwester, als ich es je sein konnte. Wenn ich in Tränen erwache, weiß ich nicht, habe ich um dich geweint, Bruder, oder um sie.
    Ich weiß, die Argonauten versuchten Jason zu bereden, mich dem Vater auszuliefern. Ich hatte ihnen durch meine unüberlegte Flucht die kolchische Flotte auf den Hals gehetzt. Es war dicht davor, daß sie mich überBord warfen, damit die Verfolger, meine Kolcher, mich auffischten. Jason hielt sich wacker. Ich stünde unter seinem Schutz. Es war mir neu, unter dem Schutz eines Mannes zu stehen. Er war verwirrt und unsicher. Seine Leute fingen an, von Entsühnung zu reden. Es wäre hilfreich, wenn wir etwas täten, um die Götter über den Tod des Absyrtos zu beruhigen, und wenn wir meine Flucht aus Kolchis und Jasons Mithilfe dabei in diese Entsühnung mit einbezögen. Ich wehrte mich gegen dieses Ansinnen, das ein Eingeständnis von Schuld in sich barg, aber ich sah, wie dringend Jason dieser Entsühnung bedurfte. Wir waren gerade in der Nähe der Insel, auf der Kirke, meiner Mutter Schwester, seit vielen Jahren lebte. Lyssa erinnerte mich daran, plötzlich erinnerte auch ich mich an einen wilden roten Haarbusch, warum eigentlich nicht, dachte ich, warum nicht diese Verwandte einmal wiedersehen, deren Ruf als Zauberin weit über ihre Insel hinausgedrungen war. Auch die Argonauten hatten von ihr gehört und weigerten sich, mit Jason und mir zu gehen, es hieß, Kirke verzaubere Männer in Schweine. Sie steuerten eine verborgene Bucht an und setzten uns aus.
    Wir trafen die Frau am Ufer, sie wusch ihr flammend rotes Haar und ihr weißes Gewand im Meer, wir sahen in ihr zerklüftetes, furchterregendes Gesicht, sie schien zu wissen, wer da kam, sie hatte uns erwartet, sie sagte, während wir zu der Ansammlung von Holzhäusern im Innern der Insel gingen, in der sie mit einer Schar von Frauen wohnte, sie habe diese Nacht von Strömen von Blut geträumt, die auch über sie gekommen seien, und sie habe sich im Meer von diesem Blut reinigen müssen. Wir schwiegen, wie es diejenigen tun sollen, die zurEntsühnung kommen, wir hockten uns an ihren Herd und bestrichen unsere Gesichter mit Asche, dir zum Gedenken, Bruder. Kirke legte sich das weiße Priesterinnenband um die Stirn und nahm den Stab in die Hand, dann wollte sie wissen, welche Bluttat wir zu sühnen hätten, ich sagte, den Tod des Bruders. Absyrtos, sagte Kirke mit tonloser Stimme. Ich nickte. Unglückliche, sagte sie. Mich befiel eine unlöschbare Trauer, die jetzt wieder erwacht, wie auch mein Gedächtnis aufgerissen wird und all diese Erinnerungsbrocken auf einmal freiliegen, so wie jedes Jahr neue Steine auf

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