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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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lügen, lügen. Nicht lügen können ist eine schwere Behinderung. Mir fällt unser Kinderspiel ein, Bruder, wir wollten lügenlernen. Wer von uns der Mutter oder dem Vater eine bestimmte Lüge so treuherzig auftischen konnte, daß sie sie glaubten, hatte gewonnen. Meistens wurden wir lachend weggeschickt, wir waren beide nicht besonders gut in diesem Spiel. Die hier, Absyrtos, sind Meister im Lügen, auch im Sich-selbst-Belügen. Von Anfang an habe ich mich gewundert über die Verhärtungen an ihren Körpern. Daß ich nichts spürte, wenn ich meine Hand auf ihren Nacken, ihren Arm, ihren Bauch legte, kein Fließen, Strömen. Nichts als Härte. Wie lange ich brauchte, diese Härte aufzutauen, wie unwillig sie waren, wie sie sich wehrten. Wie sie sich gegen Mitgefühl wehrten. Wie sie sich dann manchmal in Tränen auflösten, gestandene Männer. Wie sie oft nicht wiederkamen, mich nicht zu sich ließen, weil sie sich schämten. Ich mußte das erst begreifen lernen, Jason half mir dabei.
    Er war ein herrlicher Mann. Sein Gang, seine Haltung, das Spiel seiner Muskeln bei den Manövern auf dem Schiff – ich mußte ihn immer ansehen, und als einige seiner Argonauten von den Kolchern verwundet waren, haben Jason und ich sie versorgt, er wußte Bescheid, auch er kannte die Griffe, die Heilmittel. Näher bin ich ihm nie gewesen als in jener Nacht, da wir Hand in Hand arbeiteten, uns ohne Worte verständigten. So hatte ich nichts dagegen, seine Frau zu werden, und nicht nur, weil der König auf Korkyra, wo wir Zuflucht gesucht hatten, mich sonst an die zweite Kolchische Flotte ausgeliefert hätte, die Befehl hatte, nicht ohne mich nach Hause zu kommen. So vollzogen wir noch in der Nacht die vorgeschriebenen Hochzeitszeremonien und hielten das Beilager, in der Grotte der Makris,der alten Göttin, unter deren Schutz ich mich inständig begab, und ich legte meinen Schmuck auf ihrem Altar nieder. Ich habe seitdem keinen Schmuck mehr getragen, das war mein Gelübde an die Göttin, sie verstand mich. Ich legte meinen Rang ab. Ich war eine gewöhnliche Frau, in ihrer Hand. So gab ich mich Jason hin, ohne Rückhalt, und band ihn dadurch an mich. Ich weiß noch, wie ich in seine Schultern griff, als er auf mir lag, wie ich jeden einzelnen Muskel fühlte, seine Anspannung, sein glückliches Erschlaffen. Und wie weh mir wurde, als sich auch seine Schultern, wie die der anderen Männer von Korinth, allmählich verhärteten. Wie er aufhörte, darunter zu leiden. Ein Mann bei Hofe wurde. Für euch, sagte er. Für dich und die Kinder. Daß sie dich hier sein lassen. Da sagte er schon euch, nicht mehr uns, das war der Schnitt. Ein Schmerz, der nicht vergehen will.
    König Kreon kann versuchen, mich zu beleidigen und mich einzuschüchtern, indem er seine steinerne Miene aufsetzt, gruß- und blicklos an mir vorbeigeht. Es läßt mich kalt. Akamas mag auf mich einreden, ich solle die Suche nach diesem Toten aufgeben, auf den ich in der Höhle gestoßen sei, dann würde das Gerücht, ich hätte meinen Bruder umgebracht, von selbst wieder einschlafen; da sage ich, woher er denn wisse, daß dieser Tote ein Mann gewesen sei. Dann wird er blaß und beißt seine Zähne aufeinander, daß seine Backenknochen hervortreten, und fragt mich, drohend: Was weißt du, Medea. Ich schweige.
    Aber wenn Jason, außer sich vor Angst und Sorge, mich das gleiche fragt und wenn auch er versucht, mich zum Verstummen zu bringen, dann läßt mich das nichtkalt. Dann sage ich ihm, was ich weiß: Daß da in der Höhle die Gebeine eines Mädchens liegen, eines Kindes fast, in deinem Alter, Bruder. Und daß es die Knochen der Königstochter sind, der ersten Tochter von König Kreon und der Königin Merope, der stummen Königin, die zu mir gesprochen hat, als ich sie in ihrem finsteren Gemach besuchte und nur noch ein Ja oder Nein brauchte auf meine Frage, die der Wahrheit schon auf der Spur war. Die Antwort kam aus schmalen Lippen. Er hat es befohlen, sagte Merope. Er hat sie aus dem Weg haben wollen, Iphinoe. Er hatte Angst, wir würden sie an seine Stelle setzen. Und das wollten wir auch. Wir wollten Korinth retten.
    Die Kälte, die ich spürte, verläßt mich nicht mehr. Eine der knochigen Mägde brachte mich hinaus. Ich irrte in den Höfen des Palastes herum, den Stein in der Brust, den ich nicht mehr loswerde. Sie hatten Korinth retten wollen. Wir hatten Kolchis retten wollen. Und ihr, dieses Mädchen Iphinoe und du, Absyrtos, ihr seid die Opfer. Sie ist mehr deine

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