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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Stierhoden angeheftet, in drei Reihen übereinander, Agameda, sah ich, war die einzige Kolcherin, der es gelungen war, sich unter die Mädchen aus Korinth zu mischen, die die Hoden reinigen und am Bild der Göttin anbringen durften, um sie dann als Versprechen dauernder Fruchtbarkeit durch die Straßen der Stadt zu tragen. Während die Hörner der Stiere auf der Tempelmauer befestigt wurden und man auf dem Opferberg die Feuer anzündete, über denen das Fleisch gebraten wurde, vertrieb sich das Volk die Zeit mit Tänzen, Gesang und Gaukelei. Presbon hatte Festspiele vorbereitet, wie Korinth sie noch nicht gesehen hatte, er trieb Massen von Mitwirkenden in Kostümen über die Festwiese, die den Korinthern ihre Ruhmestaten in Erinnerung riefen, er heizte eine Stimmung an, die in Raserei umschlug, als kurz vor Anbruch der Dunkelheit zwei atemlose Männer aus der Stadt heraufgehetzt kamen, Wächter, wie man an ihrer Kleidung sah. Sie brachten die Nachricht, ein Trupp von Gefangenen habe sich mit Hilfe eingeschmuggelter Waffen aus seinem Verlies befreit und, die Menschenleere auf den Straßen ausnutzend, drüben in der Totenstadt einige derreichsten Gräber erbrochen und ausgeraubt. Nach einer Totenstille brach ein Geheul unter den Feiernden aus, das schon lange auf seinen Anlaß gewartet hatte. Es kam, wie es kommen mußte. Die Menge suchte nach Opfern, um ihren Rachedurst zu stillen. Unschlüssig wogte sie hierhin und dorthin, mit Schrecken dachte ich daran, daß einige Kolcherinnen mir gefolgt waren, aber sie waren es nicht, gegen die man losging. Man erinnerte sich der Gefangenen, die vor der Willkür ihrer Herren im Tempel Asyl gesucht hatten und dort niedere Dienste verrichteten, das sollte ein Ende haben, sie sollten die Untat der anderen büßen. Ich hetzte zum Tempeltor, beschwor die verängstigten Priesterinnen, ganz junge Mädchen zumeist aus den besseren Häusern, sie sollten es nicht zulassen, sollten die Tür verriegeln, einen Balken dagegenstemmen. Sie gehorchten mir, weil sonst niemand da war, der ihnen Befehle erteilte, die Menge hämmerte gegen die Tür, ich schlich mich durch den geheimen Ausgang hinter dem Altar hinaus und versuchte, mir Gehör zu verschaffen, man dürfe den großen Tag der Göttin nicht entweihen, ich schrie in die aufgerissenen Münder, die haßverzerrten Gesichter, ich dachte, nur durch eine Angst, die größer war als ihre Wut, könnte ich ihre Mordlust dämpfen, da trat ein Alter auf mich zu, zahnlos, ein zerklüftetes verbranntes Gesicht, er schüttelte die Fäuste gegen mich. Die Ahnen hätten der Göttin Menschen zum Opfer gebracht, das habe der sehr wohl gefallen, und warum solle man nun nicht zu den alten Bräuchen zurückkehren. Die Menge brüllte Zustimmung, ich hatte verloren. Man fing an, mich zu beschimpfen, gegen mich vorzurücken, sollen sie doch, dachte ich, wenn es schon sein muß,dann jetzt gleich, dann hier. Da hatten sie schon das Tempeltor aufgebrochen, die Priesterinnen waren geflohen, verängstigt hockten die Gefangenen am Altar, viele Hände griffen nach ihnen. Ich war mit in den Tempel geschoben worden, sie drängten mich, so daß ich auf einmal Auge in Auge vor dem Anführer stand, einem wüsten Kerl, er triumphierte unverhohlen. Was sagst du jetzt, brüllte er, ich sagte leise: Nehmt nur einen. Nur einen, brüllte er, warum denn das. Ich sagte, ihre Vorfahren hätten auch nur einen ausgewählten Menschen der Göttin zum Opfer gebracht, alles andere sei Frevel, Mord im Tempel aber werde schwer bestraft. Sie staunten, zauderten, fingen an, sich flüsternd zu beraten, der Alte, der das Wort geführt hatte, sollte entscheiden, er spreizte sich, nickte endlich. Sie zogen einen Mann aus dem Gefangenenpulk, der sich wild wehrte, er schrie und flehte, berief sich auf sein Recht, im Tempel Schutz zu finden, er war ein ungeschlachter, großer Mensch mit geschorenem Schädel und einem mächtigen krausen Bart, sein Gesicht werde ich nie vergessen können, seine auf mich gerichteten blutunterlaufenen Augen. Man schleifte ihn zum Altar, ich wandte mich nicht ab, ich sah, wie der wüste Kerl ihn abstach. Das Blut, Menschenblut, lief in die Opferrinne.
    Den habe ich auf dem Gewissen. Etwas nie wieder Gutzumachendes war geschehen, und ich hatte meine Hände im Spiel. Die anderen hatte ich gerettet, das galt mir nichts. Warum war ich aus Kolchis geflohen. Es war mir unerträglich erschienen, vor die Wahl zwischen zwei Übeln gestellt zu sein. Ich Törin. Jetzt hatte ich nur

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