Medea. Stimmen
noch zwischen zwei Verbrechen wählen können.
Ich weiß nicht, wie ich auf den Tempelhof, wie ich zurArtemis-Statue gekommen bin. Was ich zuerst wahrnahm, waren die Hoden der geopferten Stiere, die man der Göttin angeheftet hatte, als hätten ihre Brüste sich über den ganzen Leib vervielfältigt. Ein ekliger Behang. Sie stanken, die Stierhoden. Ich spuckte darauf. Sollten sie mich doch auch abstechen, die feinen Korinther, das war der richtige Augenblick, ich war bereit. Aber immer noch kannte ich sie nicht. Sie mieden mich jetzt wie eine Aussätzige. Eine unsichtbare Hand hatte einen Kreis um mich gezogen, den keiner von ihnen übertrat. Ich weiß nicht, wie lange ich da gestanden habe, am Fuß des Artemis-Bildes, sie im Blutrausch, ich todnüchtern. Ich sei zum Fürchten gewesen, sagte Lyssa mir später, die mir gefolgt war und sich heimlich in meiner Nähe gehalten hatte. Die Dunkelheit brach herein, das gare Stierfleisch wurde von den Spießen geschnitten, abgefetzt, sie balgten sich darum, sie rissen es den Kindern aus den Händen, das noch Blutige fraßen sie roh. So dicht liegt das blutrünstige Innere unter der gezähmten Außenschicht. Mich schaudert. Ich bin in ihrer Hand.
Von hundert Augenpaaren fühlte ich mich aus dem flackernden Halbdunkel belauert, ich zog mich aus dem Kreis der Feuer zurück, sie hinderten mich nicht. Ich stolperte über Gestrüpp, erbrach mich, stolperte weiter, bergab, durchquerte ein Olivengehölz, endlich sah ich ihre Feuer nicht mehr, hörte nicht mehr ihr Gegröl. Der volle Mond war mein Begleiter. In einer Senke fiel ich zu Boden, schlief vielleicht, war vielleicht bewußtlos. Als ich erwachte, kämpfte genau über mir am nächtlichen Himmel ein dunkles Ungeheuer mit dem Mond, hatte sich gierig einen großen Happenherausgebissen und ging weiter gegen ihn vor. Der Schrecken sollte kein Ende sein.
Unsere Mondgöttin wurde vom Himmel getilgt, in jener Nacht, in der sie am prallsten, tröstlichsten, am mächtigsten gewesen war. Ein ungekanntes Entsetzen drang uns Kolchern bis in die Eingeweide und ließ uns den Untergang der Welt fürchten, ein tieferes Entsetzen als das, welches die Korinther spürten, die in dem furchterregenden Himmelsschauspiel nichts anderes sehen konnten als eine Strafe der Götter, die nicht sie verschuldet hatten, sondern all jene, die fremde Götter in ihre Stadt eingeschleppt und die eigenen dadurch erzürnt hatten. Und um nicht zitternd auf das Ungeheure warten zu müssen, das der Mondvernichtung folgen mußte, machten sich die jungen Männer aus dem Tempelbezirk auf, die Schuldigen für diesen maßlosen Götterzorn zu suchen und zu bestrafen.
Ich werde nicht mehr dazu kommen, den Akamas zu fragen, warum er sein Wissen von der bevorstehenden Mondfinsternis so strikt geheimgehalten hat, warum er seinen Astronomen, die eingeweiht waren, bei Todesstrafe verbot, ihren Landsleuten anzukündigen, was ihnen bevorstand. Hat Akamas bewirken wollen, was nun eingetreten ist? Kann ein Mensch so böse sein?
Leukon, der seine eigenen Berechnungen gemacht hatte, hielt das Schweigen nicht aus, er lief zu Oistros, wo er auch mich vermutete, er wollte uns Bescheid sagen, er wollte mit uns beraten, was zu tun sei. Er fand einen Oistros, der um das Leben von Arethusa kämpfte, die von der Pest befallen war. Er erfuhr, was sie auch mir verheimlicht hatten, der Alte, der Kreter, war zuerst krank geworden, Arethusa hatte darauf bestanden, ihnzu pflegen, bis er starb, im Innenhof haben sie ihn begraben, ohne ihn den Leichensuchkommandos auszuliefern, die die Stadt durchkämmen. Leukon, sagte mir Oistros, habe sich in Tränen über Arethusa geworfen, er habe sie gestreichelt, geküßt, er habe sie angefleht zu leben, für ihn zu leben, sie habe noch lächeln können, sie habe es ihm flüsternd versprochen, er hat es als Liebesversprechen genommen, sie verlor das Bewußtsein, er blieb bei ihr. Er ist auch jetzt bei ihr. Oistros ist in jener Nacht, als der Mond sich verfinsterte, losgelaufen, um mich zu suchen. Gegen Morgen fand er mich. Zu spät.
Die Zeit wird knapp.
Wie war das doch. Ich erhob mich aus dem kurzen Schlaf, wurde mir des Geräusches bewußt, das mich wohl aufgeweckt hatte, dem ich nun, angstvoll das Verschwinden des Mondes beobachtend, nachging. Ein vertrautes Geräusch, eine Musik, ein Rhythmus, die mir ins Blut gingen und mich zu der Gruppe der kolchischen Frauen führten, die auf der stadtabgewandten Seite des Berges an schwer zugänglicher Stelle
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