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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Gestalt und besonders die Kinder, die so verschieden sind, als kämen sie nicht von der gleichen Mutter. Meidos, der größere, blonde, blauäugige, zu dem Jason schon immer besonders gerne »mein Sohn« gesagt hat, mit dem er stundenlang über Land reitet und auf den er die Entfremdung, die sich zwischen uns ausgebreitet hat, nicht überträgt. Und ich vermeide es, diesem Kind die helle Bewunderung für seinen Vater zu trüben, diesen Schmerz halte ich fest am Zügel. Pheres dagegen, mein Kleiner, rund und fest wie ein braunes Nüßchen, nach Gras riechend, wollhaarig, dunkeläugig, hingegeben dem Genuß des Essens wie jeder anderen Tätigkeit, jedem Spiel, mit diesem gesammelten Gesicht, das ich an ihm so liebe, mit dem schnellen Wechsel von Licht und Schatten auf seinen Zügen, mit seiner Fähigkeit, von einem Augenblick zum anderen von Ernst in Übermut zu fallen, trostlos zu weinen und vor Lachen außer sich zu sein. Sie bestürmten mich beide, ich solle sie mitnehmen zum Fest, ich gebrauchte eine Ausrede. Sie wollte ich beim Fest der Korinther nicht dabeihaben.
    Vielleicht ist es eine gnädige Fügung, daß uns ein Hochgefühl überkommt, wenn wir vor dem Abgrund stehen. An jenem Morgen waren alle Lasten von mir abgefallen, ich lebte, meine Kinder waren gesund und heiter und hingen an mir, ein Mensch wie Lyssa würde mich nie verlassen, die bescheidene Hütte umschloß etwas wie Glück, ein Wort, das mir viele Jahre nicht mehr in den Sinn gekommen war. Vielleicht wird dem, der geduldig ist und warten kann, für jeden Verlust ein Gewinn, für jeden Schmerz eine Freude geschenkt, solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich, unter den vielen Korinthern, die zum Opferfest wollten, die Straße zum Artemis-Tempel hinaufstieg.
    Aber was soll das. Was zwingt mich, gerade jetzt, gerade hier, mir diesen Morgen, der ein Zeitalter zurückzuliegen scheint, Stück für Stück wieder heraufzuholen. Durch die Türöffnung habe ich sie eben alle an mir vorbeiziehen sehen, habe ihre Schritte näher kommen hören, die Wachen neben meiner Tür, lächerlicherweise mit einem Speer bewaffnet, diese jungen verlegenen Männer hätten mir die Aussicht auf die Näherkommenden versperren können, sie taten es nicht. Ich sah sie alle. König Kreon mit verkniffenem Gesicht, in seinem Gerichtsmantel, umgeben von seinen persönlichen Wächtern und gefolgt von den Ältesten, die das Recht haben, Urteile zu fällen. Die Zeugen, unter ihnen der Oberpriester der Artemis, auch der unglückselige Presbon natürlich, in dessen Händen der reibungslose Ablauf des Festes gelegen hatte, den ich gestört haben soll. Und dann, als eine der wenigen Frauen, Agameda. Sie war die einzige, die einen Blick in mein Verlies warf, einen hochmütigen, triumphierenden, haßerfüllten Blick. Siekönnten mich vor ihren Augen in Stücke schneiden, ihren Haß würde sie nicht loswerden. Als letzte kamen Jason und Glauke, mein Herz machte einen Sprung. Er hielt mit der Hand ihren Oberarm umspannt und führte sie, die bleich und angegriffen aussah, beide blickten unverwandt geradeaus, beide hatten ihre Lippen aufeinandergepreßt. Was für ein Paar. He Jason, hätte ich am liebsten gerufen mit dem Rest meines früheren Übermuts, wohin bist du geraten. Es stimmt also, was man sich über ihn erzählt, er wird die arme Glauke zur Frau nehmen und nach Kreons Tod über Korinth herrschen. Sie müssen mich loswerden, sie haben keine Wahl.
    Ich war ruhig, während ich zum Heiligtum hinaufstieg. Ich mußte es tun, das macht mich immer ruhig, sogar jetzt, obwohl diese Ruhe eher eine Starre ist. Die schöne grausame Stadt Korinth. Ich nahm sie noch einmal wahr, das letzte Mal, sagte etwas in mir, oder bilde ich mir das jetzt ein. Ich lief unter festlich gekleideten Menschen, viele kannten mich, manche grüßten, die meisten sahen weg, es war mir gleichgültig. Viele trugen das Abzeichen der Trauer an ihrer Kleidung, die Pest hatte kaum eine Familie verschont, daß sie abflaue, war eine Zweckmeldung aus dem Palast. Je höher wir kamen, um so deutlicher sahen wir die Landschaft um die Stadt, Frühlingsgrün, das bald verdorren würde, und wir sahen die Karren, die die Leichen der letzten Nacht zum Fluß brachten, und die Nachen, die sie übersetzten in die Totenstadt. Niemand wollte auf die Totenfuhren achten. Mir war das Gold der Türme von Korinth wie ein Vorschein des Todes, und die Herde der zwanzig Stiere, die zum Opfer bestimmt waren und auf einem anderen Weg den

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