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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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gegeben. Niemand blickte sich nach ihm um. Jetzt soll er Tag und Nacht unter dem halb verfaulten Rumpf seines Schiffes liegen, das sie dicht am Ufer aufgebockt haben, und Telamon, sein alter Gefährte, soll ihn recht und schlecht mit Speise und Trank versorgen. Manchmal, in der Tiefe der Nacht, denke ich, daß auch er nicht schlafen kann, daß auch seine Augen den Himmel absuchen und seine und meine Blicke sich zufällig treffen könnten am Sternbild des Orion, der diesen Monat den Zenit beherrscht. Gegen Jason kann ich keinen Groll empfinden. Er ist zu schwach gewesen für einen Gegner wie Akamas.
    Der beherrscht jetzt das Feld. Er war es, der die Verlautbarung über den Tod der Glauke herausgab, an die sich jedermann halten muß, sonst ist er des Todes: Medea habe Glauke ein vergiftetes Kleid geschickt, ein grausiges Abschiedsgeschenk, das ihr, der armen Glauke, als sie es überzog, die Haut verbrannt habe, so daß sie sich, besinnungslos vor Schmerz, Kühlung suchend in den Brunnen gestürzt habe.
    Nun ist ja dieser Palast ein Ort mit hundert Ohren und hundert Mündern, und alle flüstern etwas anderes. Der Mund der in ein tiefes Verlies gesperrten und sorgsam bewachten Magd der armen Glauke flüstert: Dieses weiße Kleid, das Medea beim Artemis-Festgetragen habe, habe sie der Glauke kurz vor der Gerichtsverhandlung als Geschenk übergeben und ihr gesagt, dies solle ihr Hochzeitskleid sein, und sie wünsche ihr Glück, und Glauke habe sich unter Tränen für dieses Geschenk bedankt. Dann aber, als Glauke aus dem Gerichtssaal kam, nachdem das Urteil über Medea verkündet war und deren Austreibung immer näher rückte, sei sie zusehends unruhiger geworden. Sie sei durch den Palast geirrt und mußte mehrmals in entlegenen Winkeln, in die sie sich verkrochen hatte, aufgestöbert und zurückgebracht werden. Den Jason habe sie um keinen Preis sehen wollen, und vor Kreon sei sie mit Anzeichen von Entsetzen zurückgewichen. Sie habe nur noch mit sich selbst gesprochen, in einer hastigen unverständlichen Manier. Ganz fahrig sei sie gewesen, man habe nicht wissen können, was sie noch wahrnahm. Das Essen habe sie verweigert, als ekle sie sich davor. Niemand habe ihr von den Vorgängen außerhalb des Palastes erzählt, das war streng verboten, aber sie habe eine Witterung dafür gehabt, und an dem Tag, als man Medea verstieß, sei sie händeringend und weinend in ihrem Zimmer auf und ab gelaufen, habe sich schließlich das weiße Hochzeitskleid bringen lassen und es gegen den Einspruch der Magd übergezogen. Dann sei sie auf einmal ganz ruhig geworden, als wisse sie nun, was zu tun sei, und habe der Magd in vernünftigen Worten gesagt, sie wolle im Palasthof etwas Luft schöpfen, worüber alle, die zu ihrer Bewachung abgestellt waren, nur froh sein konnten. Sie ging also auf den Hof, hinter ihr die Magd und einige Wachen, die führte sie listig in immer enger werdenden Kreisen bis in die Nähe des Brunnens. Zwei schnelle Schritte, und sie stand aufseinem Rand. Dann einen weiteren Schritt ins Leere hinein, in die Tiefe. Sie soll keinen Laut von sich gegeben haben.
    Den König hat seitdem niemand gesehen, er soll im Innersten seiner Gemächer hocken und nur Akamas zu sich lassen. Er ist ein toter Mann. Hinter seinem Rücken beginnen die Kämpfe um seine Nachfolge. Es läßt mich kalt. Ich bin auch nicht neugierig darauf, was Akamas noch anstellen wird, um seinen Einfluß zu behaupten. Natürlich muß er versuchen, die Erinnerung auszulöschen. Presbon und Agameda, seine Helfershelfer, hat er aus der Stadt schaffen lassen. Den Eingang zur Grabhöhle der Iphinoe, mit deren Tod alles anfing, hat er zumauern lassen. Merope, die alte Königin, hat Hausarrest. Wer irgend Zeuge vom Wirken des Akamas gewesen ist, muß um sein Leben fürchten. Auch ich. An dem Tag, als die arme Glauke zu Tode kam, hat er es mich wissen lassen. An ihrer Bahre standen wir uns gegenüber. Irgend etwas in meinem Blick machte ihn schaudern. Dieser Schauder ist es, der mich schützt, und meine Gleichgültigkeit um mein Schicksal. Mich schützt, daß ich die Menschen, auch ihn, bis auf den Grund durchschaue und eben deshalb, so merkwürdig es klingen mag, ungefährlich bin. Da ich nicht glaube, daß ich oder irgend jemand sie ändern kann, werde ich in das mörderische Getriebe, das sie in Gang halten, nicht eingreifen. Nein, ich sitze hier und trinke den Wein, den ich mit Medea getrunken habe, und verschütte von jedem Glas ein paar Tropfen zum Gedenken an

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