Medicus 01 - Der Medicus
der jüdische Kaufleute im Osten Verhandlungen führten, ohne zu sprechen. »Es wird mit den Händen geredet«, erklärte Loeb. »Der gestreckte Finger gilt zehn, der gekrümmte Finger fünf. Wenn der Finger so umfaßt wird, dass nur die Spitze sichtbar ist, bedeutet es eins, die ganze Hand hundert und die Faust tausend.«
An dem Morgen, an dem sie Igdir verließen, ritten Rob und Loeb nebeneinander. Sie handelten stumm mit den Händen, schlössen Geschäfte über nicht existierende Ladungen ab und kauften und verkauften Gewürze, Gold und Königreiche, um sich die Zeit zu vertreiben. Der Pfad war steinig und schwierig.
»Wir befinden uns nicht weit vom Berg Ararat«, stellte Arieh fest. Rob betrachtete die hohen, abweisenden Gipfel und das verdorrte Gebiet ringsum.
»Was muss Noah gedacht haben, als er die Arche verließ?« fragte er, und Arieh zuckte mit den Achseln. In Nazik, der nächsten Stadt, kam es zu einer Verzögerung. Der Ort lag in einem langen, felsigen Engpaß, und in ihm lebten vierundachtzig Juden und vielleicht dreißigmal so viele Anatolier.
»In der Stadt wird eine türkische Hochzeit abgehalten«, erzählte ihnen der rabbenu , ein hagerer alter Mann mit gebeugten Schultern und scharfen Augen. »Sie haben schon mit der Feier begonnen und sind bösartig und erregt. Wir wagen es nicht, unser Viertel zu verlassen.«
Ihre Gastgeber behielten sie vier Tage lang im jüdischen Viertel. Sie hatten reichlich Nahrung und eine ergiebige Quelle. Die Juden von Nazik waren liebenswürdig und höflich, und obwohl die Sonne heiß vom Himmel brannte, schliefen die Reisenden in einer kühlen, aus Steinen errichteten Scheune auf sauberem Stroh. Aus der Stadt hörte Rob den Lärm der Schlägereien und Gelage, das Splittern von Möbeln, und einmal kam ein Steinhagel von der anderen Seite der Mauer herüber, doch es wurde niemand verletzt.
Nach vier Tagen war alles ruhig. Einer der Söhne des rabbenu wagte sich hinaus und stellte fest, dass die Türken vom Feiern erschöpft und als Folge des wilden Gelages verträglich waren. Am nächsten Morgen konnte Rob mit seinen Reisegefährten Nazik guten Mutes verlassen. Nun folgte ein Treck durch einen Landstrich ohne jüdische Siedlungen und deren Schutz. Drei Tage, nachdem sie Nazik verlassen hatten, erreichten sie eine Hochebene mit einem großen stehenden Gewässer, das von einem breiten, weißen, von Sprüngen durchzogenen Schlammrand umgeben war. Sie stiegen von ihren Eseln ab.
»Das ist der Urmiasee«, erklärte Lonzano, »ein seichtes Salzgewässer. Im Frühjahr schwemmen die Bäche Minerale von den Berghängen an. Aber es gibt keinen Wasserlauf, der den See entwässert. Nur die Sommersonne trocknet das Wasser aus, und das Salz lagert sich dann am Rand ab. Nehmt eine Prise Salz und legt sie Euch auf die Zunge!«
Rob kostete vorsichtig und verzog das Gesicht. Lonzano grinste. »So schmeckt Persien.«
Es dauerte einen Moment, bis Rob begriff. »Wir sind in Persien?«
»Ja. Hier verläuft die Grenze.«
Rob war enttäuscht. Es war eine so lange Reise gewesen... und das war alles?
Lonzano begriff. »Macht Euch nichts daraus. Ihr werdet bestimmt von Isfahan begeistert sein. Wir sollten lieber aufsitzen, wir haben noch tagelang zu reiten.«
Doch vorher pißte Rob in den Urmiasee, um dem Salz Persiens einen Schuß englischen Spezificums beizufügen.
Der Jäger
Arieh zeigte seine Abneigung deutlich. Zwar hielt er vor Lonzano und Loeb seine Zunge im Zaum, doch wenn die beiden außer Hörweite waren, galten seine bissigen Bemerkungen Rob. Selbst wenn er zu den beiden Juden sprach, war er oft alles andere als freundlich. Rob war größer und stärker. Manchmal kostete es ihn seine ganze Willenskraft, Arieh nicht zu schlagen. Lonzano bemerkte es. »Ihr müßt ihn übersehen.«
»Arieh ist ein...« Das persische Wort für Bastard fiel Rob nicht ein. »Nicht einmal zu Hause ist Arieh ein angenehmer Mensch, aber besonders schlimm ist er auf Reisen. Als wir Masqat verließen, war er erst ein knappes Jahr verheiratet. Er hat einen neugeborenen Sohn und wollte nicht von daheim weg. Seither ist er die ganze Zeit verdrossen.« Er seufzte.
»Wir alle haben eine Familie, und es ist oft hart, auf Reisen und fern von zu Hause zu sein, besonders am Sabbat und an Feiertagen.«
»Seit wann seid ihr von Masqat fort?« fragte Rob.
»Es sind jetzt siebenundzwanzig Monate.«
»Wenn das Leben eines fahrenden Kaufmanns so entbehrungsreich und einsam ist, warum bleibt Ihr dann dabei?«
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